Kommentierte Gerichtsentscheidungen – Teil 12

30. Mai 2019

Sozialgericht Dresden, Beschluss vom 20. September 2018 (Az.: S 20 AY 48/18.ER) – Eine verfassungskonforme Auslegung des AsylbLG gebietet es, dass ein nach § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AsylbLG anspruchsberechtigter Antragsteller, auch wenn er eine gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 4 i. V. m. Abs. 5 BAföG förderfähige Schulausbildung in einem Abendgymnasium durchläuft, um Grundleistungen entsprechend § 3 AsylbLG nachsuchen kann.

Dies folgt aus der überragenden Bedeutung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG). Der Antragsteller kann dieses Grundrecht außerhalb des AsylbLG nicht einlösen. Statusbedingt ist er von Leistungen nach dem SGB II und dem SGB XII ausgeschlossen (§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II in Verbindung mit § 23 Abs. 2 SGB XII). § 2 Abs. 1 AsylbLG ist deshalb verfassungskonform einschränkend dahingehend auszulegen, dass im Fall eines Ausschlussgrundes nach dem SGB XII die Inanspruchnahme von Grundleistungen gemäß § 3 AsylbLG unbenommen bleibt.

Sozialgericht Köln, Urteil vom 20. Februar 2019 (Az.: S 8 AS 4068/17):
Zur Anwendbarkeit des § 28 SGB X (Wiederholte Antragstellung), wenn zunächst ein Antrag auf Gewährung von Alg I gestellt wurden, den aber die BA für Arbeit ablehnte, weshalb beim Jobcenter erst zu einem späteren Zeitpunkt ein Antrag auf Alg II (§§ 19 ff. SGB II) einging. Der Antragsteller war hier nach den Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs in der Weise zu stellen, als hätte er auf die Rückwirkungsfiktion des § 28 SGB X verzeichtet und Leistungen bereits zu einem früheren Zeitpunkt begehrt. Amtlicherseits wurde hier ein Verstoß gegen die Auskunfts- und Beratungspflichten (§§ 14 und 15 SGB I) begangen.

Eine dem Antragsteller bereits vor dem Antragszeitpunkt zugeflossene Abfindung nach § 1a KSchG steht – unabhängig davon, ob dieser Betrag als ein vorab gezahltes Arbeitsentgelt aufgefasst zu werden hat – der Geltendmachung eines Leistungsanspruchs gemäß den §§ 19 ff. SGB II nicht entgegen, sofern es sich bei diesem Kapitalzufluss um ein unter § 12 Abs. 2 SGB II subsumierbares Schonvermögen handelt. Als Vermögen im Sinne des § 12 Abs. 1 SGB II – und nicht als Einkommen entsprechend § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II – ist alles dasjenige einzuschätzen, was einem Antragsteller bereits vor der Antragstellung wertmäßig zur Verfügung stand.

Sozialgericht Braunschweig, Beschluss vom 11. April 2019 (Az.: S 41 AS 87/19.ER):
Eine sofortige Leistungseinstellung wegen einer vom Jobcenter unter Bezug auf die Aufnahme einer nichtselbstständigen Tätigkeit in keiner Weise mehr akzeptierten Hilfebedürftigkeit im Sinne des § 9 Abs. 1 SGB II hat dann als rechtswidrig aufgefasst zu werden, wenn gewichtige Punkte dagegen sprechen, dass der Antragstellung sofort ein bedarfsdeckendes Einkommen beziehen wird. Dies ist gerade dann der Fall, wenn die vollkommen neu ausgeübte Tätigkeit lediglich zwölf Wochenstunden umfasst, und die Vergütung sich auf maximal EUR 650,- (brutto) monatlich beläuft.

In dieser Situation hat ein SGB II-Träger zumindest gemäß § 41a SGB II vorläufige Leistungen zu bewilligen und später ggf. endgültig festzusetzen.
Eine vom Jobcenter bei einem alleinstehenden Alg II-Empfänger verfügte vollständige Leistungseinstellung, wo der Antragsteller sich weiterhin fortlaufend Mietforderungen, Energiekosten und einem Bedarf an Lebensmittel, Hygieneartikeln und anderen wichtigen Gütern gegenüber sieht, ist hier völlig indiskutabel.

BSG, Urteil vom 9. August 2018 (Az.: B 14 AS 38/17.R):
Drittbeteiligte (wie z. B. ein Vermieter) können keinen Anspruch (z. B. auf Auszahlung von durch das Jobcenter anerkannten Kosten der Unterkunft nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II) geltend machen oder auf Berechtigungen wie Pflichten von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten (§ 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II) Einfluss nehmen, die der ausschließlichen Gestaltung im Verhältnis zwischen dem SGB II-Träger und dem Anspruchsberechtigten vorbehalten sind. Einem Jobcenter ist keine Sachleistungsverantwortung im Dreiecksverhältnis zwischen der leistungsberechtigten Person, dem Jobcenter und dem Wohnungsgeber in Bezug auf die Bedarfe für Unterkunft und Heizung (§ 22 SGB II) gesetzlich zugewiesen.

Der leistungsberechtigten Person obliegt stets die Verantwortung, für ihren Unterkunftsbedarf innerhalb der Angemessenheitsgrenzen selbst zu sorgen (§ 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II).
§ 22 Abs. 7 SGB II begründet keine eigenen Ansprüche des Vermieters auf Auszahlung der einer leistungsberechtigten Person vom SGB II-Träger zuerkannten unterkunftsbezogenen Leistungen. Auf dieser Grundlage können lediglich Geldzahlungen an eine andere Person als dem Leistungsberechtigten zur Auszahlung gelangen (§ 42 SGB II). Ein eigener Rechtsanspruch des Zahlungsempfängers gegen das Jobcenter wird hierdurch nicht begründet.

BSG, Urteil vom 28. November 2018 (Az.: B 14 AS 34/17.R):
Bei der Geltendmachung einer Erstattungsforderung durch das Jobcenter sind die Grundsätze der Beschränkung der Minderjährigenhaftung (§ 1629a BGB) entsprechend anwendbar.
Im Sozialrecht kann aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art. 1, 2 und 6 GG) kein geringerer Schutz von minderjährigen Personen Gültigkeit haben als im Zivilrecht.

Sozialrecht Heilbronn, Urteil vom 6. Februar 2019 (Az.: S 10 AS 1963/18):
Eine vom ehemaligen Vermieter eines Alg II-Empfängers zum Zwecke der Förderung der freiwilligen Räumung der bislang bewohnten Mietsache gewährte „Umzugsbeihilfe“ (hier: EUR 2.500,-) darf vom Jobcenter nicht entsprechend § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II als Einkommen bedarfsmindernd berücksichtigt werden.

Hier wurde eine Vermögensumschichtung vorgenommen. Der Mieter tauschte sein Gebrauchs- und Besitzrecht an der Wohnung gegen die „Umzugsbeihilfe“ seines (ehemaligen) Vermieters ein. Wenn Einkünfte lediglich darauf beruhen, dass ein Vermögensgegenstand in Geld oder geldwerte Einnahmen umgesetzt wird, ist nicht von einem Einkommen im Sinne des § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II auszugehen. Dieser Betrag hat hingegen dem Vermögen (§ 12 Abs. 1 SGB II) zugerechnet zu werden.

LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 11. Januar 2019 (Az.: L 6 AS 238/18.B.ER):
Der Bedarf an einer Anschaffung eines PC/Laptops ist unabweisbar im Sinne des § 21 Abs. 6 SGB II, wenn ein bedürftiger Schüler hierauf zwingend angewiesen ist, um am Unterricht weiter teilnehmen und Prüfungen bestehen zu können. Hier entstehende Anschaffungskosten in einer Höhe von EUR 600,- sind unmöglich mit den Mitteln des Regelbedarfs finanzierbar.
Die vom Jobcenter gemäß § 28 Abs. 3 Satz 1 SGB II gewährten Leistungen reichen für einen entsprechenden Kauf ebenfalls nicht aus. Diese Mittel sollen lediglich die notwendige Bildungsteilhabe sichern.

Ein PC/Laptop hat zwar nur einmal bezahlt zu werden, dieser Artikel erfüllt aber einen laufenden Bedarf im Sinne des § 21 Abs. 6 Satz 1 SGB II, nämlich sachgerecht eine Schule besuchen, gleichberechtigt am Unterricht teilnehmen und die Hausaufgaben erledigen zu können, ohne gegenüber Mitschülerinnen und Mitschülern benachteiligt zu sein.

Sozialgericht Trier, Urteil vom 27. November 2018 (Az.: S 3 KR 201/17):
Verurteilung zur Versorgung einer gesetzlich krankenversicherten, erwerbsgeminderten Person mit Cannabisblüten gemäß kassenärztlicher Verordnung (§ 13 Abs. 3 SGB V in Verbindung mit § 31 Abs. 6 SGB V).

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 14. März 2019 (Az.: 1 BvR 169/19):
Zur Begründetheit einer Verfassungsbeschwerde, wo es einem mehrfachbehinderten Antragsteller im einstweiligen Rechtsschutzverfahren abgelehnt wurde, über das vorläufig bewilligte Persönliche Budget von EUR 7.221,- hinaus weitere EUR 5.400,- als Persönliches Budget zu gewähren. Das Beschwerdegericht, das LSG Rheinland-Pfalz, überspannte innerhalb des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens die Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs, indem dieses Gericht einerseits die diesbezüglichen Ausführungen des Beschwerdeführers pauschal als „nicht nachvollziehbar“ bezeichnete, andererseits die Prüfung der Sach- und Rechtslage in der Weise vornahm, die keine nähere Auseinandersetzung mit den im Einzelnen vorgetragenen Aspekten erkennen lässt.

Das LSG Rheinland-Pfalz hätte das zentral aufgeworfene Argument, dass die 24-Stunden-Versorgung des Beschwerdeführers sich auf der Grundlage des vom Sozialhilfeträger entworfenen Konzepts nicht mit den von dieser Behörde veranschlagten EUR 7.221,- bewerkstelligen lässt.

Die Kalkulation dieses Sozialleistungsträgers hätte berücksichtigen müssen, dass bei einem Vergleich der Kosten des Arbeitgeber- und des Entsendemodells die im Entsendemodell durch die in der Wohnung des behinderten Menschen lebende Assistenzkräfte in einem hohen Maße Unterkunfts- und Verpflegungskosten entstehen.
Das LSG Rheinland-Pfalz verfolgte den Einwand des Beschwerdeführers nicht weiter, dass das Konzept des Sozialhilfeträgers in personeller Hinsicht eine Unterversorgung begründen würde, da der Bedarf an einer 19-Stunden-Betreuung und einer fünfstündigen Bereitschaftszeit unter Berücksichtigung üblicher Arbeits- und Pausenzeiten durch zwei Personen selbst in Beachtung der Assistenzstunden für die Eingliederungshilfe nicht zu realisieren ist.

Die dauerhafte Aufnahme von zwei Pflegekräften in den Haushalt des behinderten Menschen lässt sich dessen Einschätzung nach bereits aufgrund seiner derzeitigen Wohnsituation in einer Zwei-Zimmer-Wohnung nicht umsetzen.

Sozialgericht Berlin, Urteil vom 15. Mai 2019 (Az.: S 142 AS 12605/18):
Wer als Alg II-Empfänger ohne vorherige Zusicherung durch das zuständige Jobcenter entsprechend § 22 Abs. 4 SGB II eine andere Mietwohnung bezieht, der begeht eine Obliegenheitsverletzung, aus der die Unanwendbarkeit des § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II folgt. Wenn in dieser Situation unangemessen hohe Kosten der Unterkunft entstehen, dann gilt dies auch unabhängig von der Frage, ob der Umzug erforderlich war oder nicht.

LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 26. März 2019 (Az.: L 4 KR 50/16):
Eine unter einem zunehmenden polyzyklischen Haarausfall aufgrund einer Psoriasis capitis bzw. vulgaris leidende Versicherte ist mit einer Behinderung im Sinne des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V betroffen. Diese Versicherte ist wegen dieses krankheitsbedingten Haarverlusts in ihrer körperlichen Funktion beeinträchtigt.

Bei diesen Gegebenheiten besteht ein Anspruch auf ein maßgefertigtes Haarteil entsprechend § 33 Abs. 1 SGB V in Verbindung mit den §§ 2 Abs. 4 und 12 Abs. 1 SGB V.
Das Ziel dieser Hilfsmittelversorgung besteht in der Gewährleistung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, nicht in der möglichst umfassenden Rekonstruktion des verloren gegangenen, früheren Zustands. Der Anspruch auf Behinderungsausgleich umfasst hier nur die Versorgung, die erforderlich ist, um den Verlust des natürlichen Haupthaares für einen unbefangenen Beobachter nicht sogleich erkennbar werden zu lassen.

LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 2. April 2019 (Az.: L 10 AS 61/17):
Ein Vermögensgegenstand ist nur dann verwertbar im Sinne des § 12 Abs. 1 SGB II, wenn hieraus im Bewilligungszeitraum auch Erträge zu erwarten sind, mit denen die bedürftige Person ihren notwendigen Lebensunterhalt wird bestreiten können. In jedem Einzelfall hat geprüft zu werden, ob prognostisch von einer Verwertbarkeit des betr. Vermögens innerhalb von maximal einem Jahr (§ 41 Abs. 3 Satz 1 SGB II) auszugehen ist.

Bei einer marktgängigen Immobilie ist eine entsprechende Verwertbarkeit grundsätzlich zu bejahen. Dies liegt aber bei einem im ländlichen Raum gelegenen Hausgrundstück mit ungünstiger verkehrsmäßiger Anbindung, das noch vollkommen neu vermessen zu werden hat, nicht vor.

Quelle: Dr. Manfred Hammel

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