Jobcenter kann Prostitution nicht verlangen

19. August 2022

Berlin (DAV). Arbeitnehmer oder Selbstständige aus EU-Staaten können in Deutschland aufstockend Sozialleistungen empfangen. Keine Leistungen erhält, wer sich nur zur Arbeitssuche hier aufhält oder freiwillig seine Tätigkeit aufgibt. Auch das Erbringen sexueller Dienstleistungen kann als selbstständige Tätigkeit ein EU-Aufenthaltsrecht garantieren.

Wer die Prostitution aufgibt, hat dennoch weiter Anspruch auf Sozialleistungen, wie Hartz IV. Das Aufgeben der Prostitution stellt keine freiwillige, selbstverschuldete Beendigung der Erwerbstätigkeit dar, da es in besonderer Weise die Intimsphäre berührt. Das Jobcenter darf nicht darauf verweisen, dass diese Tätigkeit weiter ausgeübt werden könnte oder vorher ausgeübt wurde. Die Arbeitsgemeinschaft Sozialrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV) informiert über eine Entscheidung des Sozialgerichts Berlin vom 15. Juni 2022 (S 134 AS 8396/20).

Die 1990 geborene Bulgarin kam 2014 nach Berlin und war auf dem Straßenstrich steuerlich gemeldet als selbstständige Prostituierte tätig. Im Juli 2019 gab sie die Tätigkeit auf, da sie ihr zweites Kind erwartete und die Tätigkeit für sich als nicht mehr zumutbar empfand. Bis September 2020 bezog sie Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes vom Jobcenter Berlin. Dann lehnte das Jobcenter eine Weiterbewilligung ab. Die Klägerin habe nur noch ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche und sei deshalb vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Sie habe ihre Tätigkeit freiwillig beendet, um sich beruflich neu zu orientieren. Daher scheide ein weiterer Anspruch auf Hartz IV aus.

Die Klage der Frau ist erfolgreich. Das Sozialgericht verpflichtete das Jobcenter der Klägerin und ihren beiden 2008 und 2020 geborenen Kindern für Oktober 2020 bis Mai 2022 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes zu gewähren. Die 32jährige bulgarische Klägerin behält damit ihr Aufenthaltsrecht als ehemalige Selbstständige, obwohl sie ihre Tätigkeit bewusst aufgegeben hat.

Das Gericht begründet seine Entscheidung damit, dass die Klägerin als EU-Bürgerin durch ihre selbstständige Tätigkeit als Prostituierte ein Aufenthaltsrecht in Deutschland erworben habe. Dieses habe auch nach Beendigung der Tätigkeit fortbestanden, da die Beendigung unfreiwillig erfolgt sei. Zur unfreiwilligen Aufgabe führte das Gericht aus: „Es kann objektiv keinem Menschen zugemutet werden, sich unter den von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung geschilderten Bedingungen des Berliner Straßenstrichs zu prostituieren.“

Doch auch generell sei die willentliche Beendigung der Prostitution keine freiwillige Aufgabe der Erwerbstätigkeit. Das Erbringen sexueller Dienstleistungen berühre die Intimsphäre und die Menschenwürde der betroffenen Person in besonderer Weise. Aus der staatlichen Schutzpflicht für die Menschenwürde folge, dass Prostitution als unzumutbar anzusehen sei und von der betroffenen Person nicht ausgeübt werden müsse, um die Hilfebedürftigkeit zu verringern.

Dem lasse sich nicht entgegenhalten, dass die betreffende Person diese Tätigkeit zuvor ausgeübt habe. Eine objektiv unzumutbare Arbeit, deren Ausübung der Staat von niemandem verlangen kann, werde nicht deshalb zumutbar, weil die Person sie zeitweise ertragen hat.

Quelle und Informationen: www.dav-sozialrecht.de

Print Friendly, PDF & Email


Weitere Meldungen: