Kommentierung zum BverfG Urteil – Sanktionen bis 100 Prozent

11. November 2019

Hier verweist das BVerfG insbesondere auf die Unzumutbarkeit des damit verbundenen Wohnungsverlustes. „Nur begrenzten Schutz vor einem Wohnungsverlust schafft auch § 22 Abs. 8 SGB II, wonach die Miete als Darlehen übernommen werden kann, denn das gilt erst, wenn die Kündigung bereits erfolgt ist.“ [Rdnr. 203]

Zwar könne eine Verletzung von Art. 2 Abs. 2 GG (körperliche Unversehrtheit) ausgeschlossen werden, „weil nach § 16 Abs. 3a Satz 4 SGB V weiterhin ein Behandlungsanspruch besteht“ [Rdnr. 204], aber Studien zeigten, daß die Sanktion kontraproduktiv sei, insbesondere im Hinblick auf die Wohnungslosigkeit und die sich aufbauende Verschuldung. „Zudem besteht die Gefahr, dass leistungsberechtigte Hilfebedürftige im Fall von Sanktionen nicht etwa dazu motiviert werden, ihre Mitwirkungspflichten zu erfüllen, sondern den Kontakt zum Jobcenter ganz abbrechen (… Rn. 65 f.).“ [Rdnr. 206] Ferner sei es wahrscheinlich, „dass Menschen ihre Bedarfe durch illegale Erwerbsarbeit und Kriminalität zu decken suchen (ausführlich … Rn. 65)“ [Rdnr. 206].

Es erschließt sich allerdings nicht, wie das BVerfG dennoch zu seiner Einschätzung kommt, daß dieses anders zu beurteilen sei, „wenn und solange Leistungsberechtigte es selbst in der Hand haben, durch Aufnahme einer ihnen angebotenen zumutbaren Arbeit (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II) ihre menschenwürdige Existenz tatsächlich und unmittelbar durch die Erzielung von Einkommen selbst zu sichern. Ihre Situation ist dann im Ausgangspunkt derjenigen vergleichbar, in der keine Bedürftigkeit vorliegt, weil Einkommen oder Vermögen aktuell verfügbar und zumutbar einsetzbar sind. Wird eine solche tatsächlich existenzsichernde und im Sinne des § 10 SGB II zumutbare Erwerbstätigkeit ohne wichtigen Grund im Sinne des § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II willentlich verweigert, obwohl im Verfahren die Möglichkeit bestand, dazu auch etwaige Besonderheiten der persönlichen Situation vorzubringen, die einer Arbeitsaufnahme bei objektiver Betrachtung entgegenstehen könnten, ist daher ein vollständiger Leistungsentzug zu rechtfertigen.“ [Rdnr. 209]

Wieso hier „Wohnungslosigkeit, die Gefahr der Dequalifizierung, verstärkte Verschuldung, eingeschränkte Ernährung, unzureichende Gesundheitsversorgung, sozialen Rückzug sowie seelische Probleme bei erwerbsfähigen Leistungsberechtigten“ [Rdnr. 194] keine Rolle spielen sollen, erschließt sich nicht, vor allem nicht, wieso hier „die Gefahr von Kleinkriminalität, Schwarzarbeit“ [Rdnr. 65] nicht gegeben sein soll, zumal es bei der 100 %-Sanktion wahrscheinlich erscheint, „dass Menschen ihre Bedarfe durch illegale Erwerbsarbeit und Kriminalität zu decken suchen“ [Rdnr. 206].

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Vollständiger Artikel, Kommentierung und Quelle: Herbert Masslau


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