Kommentierte Gerichtsentscheidungen – Teil 25

17. Juli 2020

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Februar 2020 (1 BvR 1246/19). Die Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses von Ausländern nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII mit dem menschenwürdigen Existenzminimum (Art. 1 Abs. 1 GG) ist sehr umstritten. Die Verfassungsmäßigkeit des Leistungsausschlusses für Unionsbürger, die im Bundesgebiet zwar nicht erwerbstätig, aber auch nicht ausreisepflichtig sind, stellt eine schwierige, ungeklärte Rechtsfrage dar.

Die Ablehnung des Antrags auf Prozesskostenhilfe in einem entsprechenden sozialgerichtlichen Eilverfahren verletzt den Antragsteller in seinen Rechten aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 19 Abs. 4 GG.

OVG Sachsen, Beschluss vom 24. Februar 2020 (3 B 262/19):

Die Eignung für die Kindertagespflege im Sinne des § 43 Abs. 2 SGB VIII setzt voraus, dass das Gesamtbild der Persönlichkeit, deren Sachkompetenz sowie die soziale und kommunikative Kompetenz überzeugt.

Zu den erforderlichen charakterlichen Eigenschaften einer Tagespflegeperson, die diese befähigt, die in § 22 Abs. 2 und 3 SGB VIII normierten Ziele der Tagespflege erfüllen zu können, gehören eine ausreichende psychische Belastbarkeit und Zuverlässigkeit, um in der Bewältigung auch unerwarteter Situationen flexibel reagieren zu können, sowie ein ausreichendes Verantwortungsbewusstsein und eine hinreichende emotionale Stabilität, damit das aufgenommene Kind und seine Rechte stets geachtet werden.

Eine Tagespflegeperson, die die ihr zum Zwecke der Tagespflege außerhalb des Haushalts des Erziehungsberechtigten anvertrauten vier Kleinkinder im Alter bis zu drei Jahren in ihrem Kfz auf dem Parkplatz eines Supermarkts zurücklässt, während sie – auch für die von ihr aufgenommenen Kinder – einkauft, verletzt in einem erheblichen Maße ihre Aufsichtspflicht.
Von einer verantwortungsbewussten und zuverlässigen Aufsichtsperson ist zu erwarten, dass sie Kleinkinder möglichst lückenlos beaufsichtigt und den Kontakt zu ihnen nicht ohne triftige Gründe unterbricht.

Einkaufen stellt keinen solchen triftigen Grund dar. Dies kann auch außerhalb der Betreuungszeit oder zusammen mit den Kindern erledigt werden.
Von ihrem Standort im Supermarkt aus ist eine Aufsichtsperson kaum in der Lage, in einer Gefahrensituation auf dem Parkplatz unmittelbar und rasch einzugreifen.

LSG Hessen, Beschluss vom 4. Juni 2020 (L 4 AY 5/20.B.ER):

Ein Aufsuchen einer christlichen Gemeinde im Rahmen des sog. offenen Kirchenasyls stellt kein rechtsmissbräuchliches Handeln entsprechend § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG dar.
Während dieser besonderen Form der Unterbringung ist den Ordnungsbehörden die Abschiebung als Maßnahme zur Aufenthaltsbeendigung (§§ 34 ff. AsylG) weder rechtlich noch tatsächlich unmöglich, sofern der Ausländerbehörde der Aufenthalt der nichtdeutschen Person stets durchgehend bekannt ist.

Der Staatsgewalt ist der tatsächliche Zugriff auf kirchliche Räume nicht entzogen. Behördlicherseits lässt sich erforderlichenfalls die Abschiebung einer sich im Kirchenasyl befindenden Person unter Anwendung unmittelbaren Zwangs durchsetzen.
Die Ordnungsbehörde verhält sich widersprüchlich, wenn sie einerseits den weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet im Rahmen des sog. offenen Kirchenasyls toleriert, andererseits den Aufenthalt dieses Ausländers im Bundesgebiet als rechtsmissbräuchlich im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG auffasst.

Bundessozialgericht, Urteil vom 12. Dezember 2019 (B 14 AS 26/18.R):

Die Angemessenheit der mit eigengenutztem Wohneigentum verbundenen Aufwendungen ist gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II stets nach den unterkunftsbezogenen Kosten zu beurteilen, die auch bei Mietwohnungen angemessen sind. Die Frage nach der Angemessenheit von Unterkunftskosten hat für Mieter und Hauseigentümern nach einheitlichen Kriterien beurteilt zu werden.

Bei im eigenen Wohnraum lebenden erwerbsfähigen Leistungsberechtigten sind nur diejenigen Zahlungsverpflichtungen für den Antragsmonat als ein Bedarf nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II anzuerkennen, die in diesem Monat als fällige Forderungen in Bezug auf dieses Wohneigentum von ihnen zu erfüllen sind.

Ratenzahlungsverpflichtungen aufgrund einer Zahlungsvereinbarung, die nach einem gekündigten Immobiliendarlehensvertrag von einer bedürftigen Person mit ihrem Darlehensgeber abgeschlossen wurde, um die damals fällige Restschuld sowie die fälligen Zinsen ratenweise zurückzuzahlen, sind vom Jobcenter nicht in den späteren Zahlungsmonaten als ein unterkunftsbezogener Bedarf entsprechend § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II anzuerkennen.

Hier liegt keine aktuell fällig werdende Tilgung von aus einem Darlehensvertrag zum Erwerb von Wohneigentum resultierenden Schulden, sondern eine Verpflichtung aus einer Vereinbarung zur Begleichung von zu einem früheren Zeitpunkt zu bedienenden (Alt-) Schulden vor.
Diese Zahlungen waren nicht mit den Aufwendungen für fortlaufend fällig werdende Zinsen aufgrund eines zur Wohnraumfinanzierung aufgenommenen Darlehens vergleichbar. Hiermit wurden aus gekündigten Darlehensverträgen resultierende Verbindlichkeiten, die zeitlich vor dem laufenden Leistungsbezug nach dem SGB II entstanden und fällig geworden waren, bedient. Diese Tilgung diente allenfalls mittelbar der Eigenheimfinanzierung.

LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 26. Juni 2020 (L 14 AS 2270/19.B.ER):

Die Verwendung der Bezeichnung „Inkasso (einschließlich Zahlungsverkehr)“ zur Übertragung von Vollstreckungsbefugnissen vom Jobcenter auf die Bundesagentur für Arbeit (Agentur für Arbeit Recklinghausen) reicht für eine rechtmäßige bzw. wirksame Übertragung der Aufgaben des Forderungseinzugs nicht aus. Hier ist in keiner Form in einer unmittelbar ausführungsfähigen Art und Weise festgelegt worden, für welche Zuständigkeiten im Einzelnen eine Übertragungsvereinbarung abgeschlossen werden sollte.

Wenn eine Maßnahme der Vollstreckung dem Verwaltungs-Vollstreckungsgesetz (VwVG) des Bundes zuzurechnen ist und deshalb eine öffentlich-rechtlich verliehene Kompetenz voraussetzt, dann bewirkt eine solche Verfügung Rechtsfolgen nur unter Wahrung der gesetzlichen Zuständigkeitsordnung, ansonsten ist sie unwirksam.

Ein von der BA für Arbeit in einer für ein Jobcenter geltend gemachten Erstattungsforderung dem Leistungsbezieher gegenüber erlassenes „Mahnschreiben“ entfaltet vor diesem Hintergrund keine die Verjährung hemmende Wirkung im Sinne des § 52 Abs. 2 SGB X.

LSG Hamburg, Beschluss vom 12. März 2020 (L 4 SO 14/20.B.ER):

Der Ausschlussgrund nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 SGB XII greift nicht, wenn einer nichtdeutschen, aus einem außerhalb der Europäischen Union gelegenen Staat stammenden Antragstellerin bei ihrer Einreise in das Bundesgebiet zwar bekannt war, dass sie in Deutschland über kein bedarfsdeckendes Einkommen verfügen würde und sich hier auch nicht auf Arbeitsuche befand, sich aber in das Bundesgebiet begab, um der Zwangsprostitution und durch den mit ihr nach Roma-Art verheirateten Gatten ausgeübten Gewalttätigkeiten zu entgehen.
Hier liegt eine besondere Härte entsprechend § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII vor.

Der Antragstellerin war der Weg zurück zu den in ihrem Herkunftsstaat lebenden Kindern nicht zumutbar, weil ihr dort durch den Kindsvater Gewaltanwendung und Zwangsprostitution drohte.
Die Tatsache, dass ihr diese Rückreise als solche grundsätzlich möglich war und ihr zugemutet werden konnte, ändert nichts daran, dass von ihr dieses Verlassen des Bundesgebiets wegen erlittener körperlicher und seelischer Traumatisierung nicht verlangbar ist.
Hohe Priorität hat hier die körperliche Erholung und psychische Stabilisierung dieser Antragstellerin während einer Frist von mindestens drei Monaten (§ 25 Abs. 4a AufenthG in Verbindung mit § 59 Abs. 7 Satz 2 AufenthG): Ein Übergangszeitraum, für den Leistungen nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII, hier: Hilfe zum Lebensunterhalt (§§ 27 ff. SGB XII) und bei Krankheit (§ 48 Satz 1 SGB XII), ungeschmälert zu bewilligen sind.

Sozialgericht Köln, Beschluss vom 10. Juni 2020 (S 8 AS 1817/20.ER):

Zur Bejahung des von einem nach § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II leistungsberechtigten Schülers geltend gemachten Bedarfs für die Anschaffung eines internetfähigen Endgeräts zur Teilnahme am pandemiebedingten Schulunterricht im heimischen Umfeld als ein Mehrbedarf im Sinne des § 21 Abs. 6 SGB II.

Die Anschaffung eines Schulcomputers ist hier bedingt durch die pandemiebedingte Schließung des Präsenzschulbetriebs unabdingbar erforderlich geworden. Dieser Bedarf ist im Regelbedarf (§ 20 SGB II) nicht berücksichtigt. Die Kosten für ein internetfähiges Endgerät übersteigen die im Regelbedarf vorgesehenen Verbrauchsausgaben für Bildung deutlich und werden auch nicht von dritten Personen oder Institutionen (wie z. B. die Schule) gedeckt.

Ein etwaig vorhandenes Schonvermögen (§ 12 Abs. 2 SGB II) hat grundsätzlich nicht zur Deckung des Härtefallmehrbedarfs nach § 21 Abs. 6 SGB II verwendet zu werden. Für ein internetfähiges 10-Zoll-Tablet ist von Kosten in einer Höhe von EUR 150,- und für einen Multifunktionsdrucker von EUR 70,- auszugehen.

LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 15. Juni 2020 (L 9 AY 78/20.B.ER):

Zur Verneinung der Voraussetzungen für eine Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG in Verbindung mit § 1a AsylbLG. Hier muss bei einer entsprechend § 1 Abs. 1 AsylbLG leistungsberechtigten Person ein pflichtwidriges Verhalten feststellbar, es ihr insbesondere möglich sein, in das ihr ursprünglich Schutz gewährende Land problemlos zurückzukehren.
Es sind erhebliche Zweifel daran vertretbar, ob die Regelung des § 1a Abs. 4 Satz 2 in Übereinstimmung mit dem aus Art. 3 Abs. 1 GG hervorgehenden allgemeinen Gleichheitssatz steht.

Der von Anspruchseinschränkungen betroffenen Klientel nach § 1 a Abs. 1 bis 3 AsylbLG muss stets ein konkretes, selbst zu vertretendes, aufenthaltsrechtliches Fehlverhalten nachweisbar sein, damit eine Leistungseinschränkung verfügt werden darf. Aus dem Wortlaut des § 1a Abs. 4 AsylbLG geht Entsprechendes aber nicht hervor. Die Gründe, auf die die Sekundärmigration zurückzuführen ist, bleiben hier ebenfalls unberücksichtigt.

Sozialgericht Köln, Beschluss vom 24. Juni 2020 (S 32 AS 2150/20.ER):

Zur Anerkennung eines Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 6 SGB II wegen der unabdingbar notwendigen Anschaffung eines funktionsfähigen PCs oder Laptops nebst Drucker und –zubehör in einer Höhe von EUR 240,-.

Hier handelt es sich um einen laufenden, nicht nur einmaligen Bedarf zur Teilnahme am pandemiebedingt im heimischen Umfeld durchgeführten Schulunterricht. Diese Kosten sind im Regelbedarf (§ 20 SGB II) nicht berücksichtigt und entstehen aufgrund der Schließung bzw. Einschränkung des Präsenzschulbetriebs bei bedürftigen Schülern in unabdingbarer Weise fortlaufend.

OVG Bremen, Beschluss vom 25. Mai 2020 (2 B 66/20):

Zur vorläufigen Verpflichtung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe zur Gewährung von Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder (§ 35a SGB VIII) in der Ausführungsform des persönlichen Budgets (§ 29 SGB IX) für eine Schulassistenz als Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung im Sinne des § 112 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB IX (hier: monatlich EUR 4.354,- für eine Schulassistenz im Umfang von 40 Wochenstunden).

Aus § 29 Abs. 1 Satz 1 SGB IX geht keine Beschränkung des Anwendungsbereichs dieser Norm auf volljährige oder einzig auf körperlich behinderte Personen hervor. Die in § 35a Abs. 3 SGB VIII festgeschriebene Verweisungsnorm ist hier voll anwendbar. Bei einer Schulassistenz handelt es sich um eine „Leistung zur Teilhabe“, nämlich um eine Leistung zur Teilhabe an Bildung nach § 35a Abs. 3 SGB VIII in Verbindung mit § 112 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB IX.

Die Tatsache, dass im Einzelfall die Ausführungsform des persönlichen Budgets weder in einen Hilfeplan nach § 36 Abs. 2 SGB VIII aufgenommen noch zwischen dem seelisch wesentlich behinderten Schulkind und dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe eine Zielvereinbarung gemäß § 29 Abs. 4 Satz 1 und 2 SGB IX abgeschlossen worden ist, steht dem solchermaßen geltend gemachten Leistungsanspruch nicht entgegen. Dies gilt gerade dann, wenn behördlicherseits dieser Anspruch rechtsirrig bestritten wird, und es dem bedürftigen Antragsteller unter keinen Umständen möglich ist, die von ihm nachgesuchte Assistenz ohne ein persönliches Budget zu finanzieren: Dies stünde einem geordneten Schulbesuch entgegen.

Bundessozialgericht, Urteil vom 20. Februar 2020 (B 14 AS 3/19.R):

Ob und in welchem Umfang einem Widerspruchsführer vom Jobcenter Aufwendungen für die Beiziehung eines Rechtsanwalts dem Grunde nach zu erstatten sind, richtet sich entsprechend § 63 Abs. 1 Satz 1 SGB X nach dem Erfolg des erhobenen Rechtsbehelfs, sofern im Vorverfahren anwaltliche Hilfe notwendig war (§ 63 Abs. 2 SGB X).

Wegen der Komplexität des Sozialrechts ist die Zuziehung rechtskundiger Bevollmächtigter in der Regel notwendig, auch um ein faires Verfahren und eine gewisse „Waffengleichheit“ zwischen den beteiligten Parteien zu gewährleisten.

§ 63 SGB X setzt durch die Verbindung der Kostenerstattung mit dem Erfolg des Widerspruchs den Anspruch des einzelnen auf Rechtswahrnehmungsgleichheit um.

Da der Kostenerstattungsanspruch aus § 63 SGB X von der Ersatzpflicht der Gegenpartei gemäß § 9 Satz 1 BerHG erfasst ist, verfügt der Bevollmächtigte über § 9 Satz 2 BerHG über einen Anspruch aus übergegangenem Recht gegen das Jobcenter auf Zahlung seiner Kostennote.
Die Aufrechnung von Kostenerstattungsansprüchen des Widerspruchsführers entsprechend § 63 SGB X mit Erstattungsforderungen des Jobcenters aufgrund der Überzahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach den §§ 19 ff. SGB II verstößt gegen ein normatives Aufrechnungsverbot.

BSG, Urteil vom 20. Februar 2020 (B 14 AS 52/18.R):

Der Sinn und Zweck des § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB II spricht gerade auch unter Berücksichtigung seiner Entstehungsgeschichte entschieden dagegen, bei der Werteermittlung im Rahmen der Beurteilung der wirtschaftlichen Verhältnisse von Antragstellern einzig auf den tatsächlichen Zeitpunkt der Antragstellung, unabhängig von seiner rechtlichen Wirkung, abzustellen.
§ 37 Abs. 2 Satz 2 SGB II soll dem Nachranggrundsatz (§ 3 Abs. 3, 1. Halbsatz SGB II) in der Weise Geltung verleihen, indem Einnahmen (§ 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II), die erwerbsfähigen Leistungsberechtigten innerhalb des Antragsmonats vor der Antragstellung (§ 37 Abs. 1 Satz 1 SGB II) zufließen, als Kapitalzufluss bedarfsmindernd zu berücksichtigen sind.

§ 12 Abs. 4 Satz 2 SGB II führt hier zu keiner anderen Auslegung. Es besteht keine gesetzliche Grundlage dafür, wesentliche Veränderungen in Bezug auf die Höhe des vorhandenen Vermögens (§ 12 Abs. 1 SGB II) jedenfalls für den laufenden Kalendermonat unberücksichtigt zu lassen.
§ 37 Abs. 2 Satz 2 SGB II bestimmt den Ersten des Antragsmonats als den maßgeblichen (Ausgangs-) Zeitpunkt für die Vermögensbewertung, spricht sich aber nicht zu Änderungen in der Vermögenslage aus und regelt keinen Bewertungszeitpunkt für Kalendermonate, soweit diese nicht Antragsmonat sind.

LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15. April 2020 (L 11 AS 922/18.NZB):

Die für den Besuch der einjährigen Berufseinstiegsklasse einer hauswirtschaftlichen Schule einer erwerbsfähigen Leistungsberechtigten entstehenden Kosten für die Anschaffung notwendiger „Kochkleidung“ sind nicht gemäß § 28 SGB II übernahmefähig, wenn antragstellerseitig in keiner Weise glaubhaft gemacht werden kann, dass diese Artikel nicht (auch) als Alltagskleidung verwendet werden bzw. wurden.

Dieser Bedarf wird vom Regelbedarf nach § 20 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Verbindung mit § 6 Nr. 3, Abteilung 3 („Bekleidung und Schuhe“) Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz (RBEG) erfasst, weshalb hier auch die Anwendung des § 21 Abs. 6 SGB II ausgeschlossen ist.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 30. April 2020 (VII ZB 82/17):

Bei einem vollstationär untergebrachten Schuldner, dem der Sozialhilfeträger monatlich einen Barbetrag gemäß § 27b Abs. 3 SGB XII bewilligt, und die Pflegeeinrichtung diese Mittel auf einem sog. Taschengeldkonto verwaltet, ist der Auszahlungsanspruch des Schuldners gegen dieses Alten- und Pflegezentrum entsprechend § 851 Abs. 1 ZPO („Nicht übertragbare Forderungen“) in Verbindung mit § 399 BGB („Ausschluss der Abtretung“) jeweils bis zu der Höhe unpfändbar, die in § 27b Abs. 3 SGB XII für den angemessenen Barbetrag geregelt ist.

Eine Pfändung kann hier nur dann ausgebracht werden, sofern das auf diesem Sonderkonto sich befindende Guthaben den vom Schuldner gemäß § 27b Abs. 3 SGB XII für den laufenden Monat erhaltenen Betrag übersteigt.

Wenn vom Sozialamt für den notwendigen Lebensunterhalt nach den §§ 27 ff. SGB XII dem Schuldner öffentliche Mittel bereits ausbezahlt oder angewiesen worden sind, dann greift das aus § 17 Abs. 1 Satz 2 SGB XII hervorgehende Pfändungsverbot nicht mehr. Eine besondere Zweckbildung dieser Beträge entsprechend § 851 Abs. 1 ZPO in Verbindung mit § 399 BGB besteht hier allerdings nur insoweit, als die vom Einrichtungsträger auf dem „Taschengeldkonto“ des Schuldners verwalteten Geldbeträge der Höhe nach dem angemessenen Betrag gemäß § 27b Abs. 3 SGB XII entsprechen. Diese Mittel dienen der Sicherung einer menschenwürdigen Existenz im jeweiligen Bewilligungsmonat (§ 1 Satz 1 SGB XII).

Dies gilt unabhängig davon, ob der von diesem Pflegezentrum auf dem „Taschengeldkonto“ verwaltete Geldbetrag aus Mitteln der Sozialhilfe oder aus einer Rente stammt.
Entsprechendes ist allerdings zu verneinen, sofern die von dieser Einrichtung als Drittschuldnerin auf diesem Sonderkonto verwalteten Geldbeträge der Höhe nach den angemessenen Barbetrag zur persönlichen Verfügung nach § 27b Abs. 3 SGB XII übersteigen. Hier kann kein besonderer Pfändungsschutz zum Zwecke der Sicherung der menschenwürdigen Existenz des Schuldners anerkannt werden.

LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 26. Mai 2020 (L 11 AS 793/18):

Die von einem erwerbsfähigen Leistungsberechtigten für die Anschaffung notwendiger Berufskleidung für den Besuch der Berufseinstiegsklasse „Lebensmittelhandwerk und Gastronomie“ einer Berufsbildenden Schule erforderlichen Mittel in Höhe von EUR 149,56 entsprechen einem grundsicherungsrechtlich bedeutsamen Bedarf, sofern keine andere Möglichkeit der Deckung (z. B. über die von einem Förderverein geleistete freiwillige Zuwendungen) besteht.

Die erheblichen Kosten einer speziellen, schulnotwendigen Berufskleidung unterfallen nicht der Schulbedarfspauschale nach § 28 Abs. 3 SGB II, die zur Deckung eher allgemeiner, grundlegender Schulbedarfe bestimmt ist. Lediglich die Kosten für die Anschaffung von auch im schulischen Kochunterricht zu tragenden (besonderen) Alltagskleidung sind durch die Gewährung von Regelbedarfsleistungen nach § 20 SGB II bereits auskömmlich gedeckt.

Hier gelangt § 21 Abs. 6 SGB II zur Anwendung, um die in diesem Sachzusammenhang im SGB II bestehende, planwidrige Regelungslücke zu schließen, auch wenn für dieses „Berufseinstiegs-Set“ nur eine einmalige Leistung für eine entsprechende Erstausstattung fällig wird, die aber unabweisbar, besonderer Natur und von erheblicher Höhe ist.

LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 11. Mai 2020 (L 9 AY 22/19.B.ER):

Es bestehen bereits erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der in § 3a AsylbLG geregelten, neuen und besonderen Bedarfsstufe für erwachsene Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 AsylbLG, die in Aufnahmeeinrichtungen, Gemeinschafts- oder vergleichbaren Unterkünften untergebracht sind.

Der Gesetzgeber vertritt an dieser Stelle schlicht die Behauptung, der Aspekt des gemeinsamen Wirtschaftens aus „einem Topf“, der für eheähnlich zusammenlebende Personen von signifikanter Bedeutung ist, könnte ebenfalls auf eine Klientel übertragen werden, die lediglich bestimmte Räumlichkeiten in Sammelunterkünften (wie z. B. die Küche sowie die Sanitär- und Aufenthaltsräume) gemeinsam nutzen.

Für ein Bestehen dieser konkreten Synergieeffekte fehlt jeder Nachweis, weshalb sie als eher spekulativ aufzufassen sind. § 3a Abs. 1 Nr. 2b) AsylbLG kann nur aufgrund verfassungskonformer Auslegung als mit dem Grundrecht auf Gewährung des menschenwürdigen Existenzminimums nach Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG vereinbar aufgefasst werden, wenn die Regelbedarfsstufe 2 gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz (RBEG) angesetzt werden kann, weil leistungsberechtigte Personen mit anderen in einer Gemeinschaftsunterkunft untergebrachten Menschen in Form der Tätigung gemeinsamer Einkäufe und Essenszubereitung regelmäßig gemeinsam wirtschaften, wodurch deutlich feststellbare Synergieeffekte aufgrund geringerer Anschaffungs- und Zubereitungskosten entstehen. Für ein Bestehen solcher Gegebenheiten trägt der öffentliche Träger die volle Beweislast.

Sozialgericht Berlin, Beschluss vom 19. Mai 2020 (S 90 AY 57/20.ER):

Während der Geltungsdauer der zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus erlassenen Kontaktbeschränkungen und Abstandsregelungen kann amtlicherseits von einem gemeinsamen Wirtschaften von in einer Gemeinschaftsunterkunft nach § 53 Abs. 1 Satz 1 AsylG lebenden, nach § 1 Abs. 1 AsylbLG leistungsberechtigten Personen entsprechend § 3a Abs. 1 Nr. 2b) AsylbLG bzw. § 3a Abs. 2 Nr. 2b) AsylbLG nicht pauschal ausgegangen werden.

In Sammelunterkünften untergebrachte Flüchtlinge sind zu besonderer Vorsicht und Wahrung der verfügten Hygienemaßnahmen und Abstandsregeln gehalten, da sie aufgrund ihrer besonderen Wohnsituation in einem besonderen Maße gefährdet sind, sich und andere Personen zu infizieren.

Sozialgericht Stralsund, Gerichtsbescheid vom 5. Juni 2020 (S 9 AS 107/20):

Wenn unstreitig nicht die Möglichkeit bestand, das Umzugsgut in einen Kleintransporter zu verladen und innerhalb eines Tages an den 460 km entfernt liegenden, neuen Wohnort zu transportieren, und haben den erwerbsfähigen Leistungsberechtigten (§ 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II) nicht mehrere Tage zur Verfügung gestanden, um die neu angemietete Wohnung bereits zu einem früheren Zeitpunkt zu beziehen, geht der vom Jobcenter unterbreitete Vorschlag, diesen notwendigen Umzug mit einem Kleintransporter an drei Tagen und unter mehrmaligem Zurücklegen der Entfernung zwischen dem bisherigen und dem neuen Wohnort durchzuführen, ins Leere.
Bei solchen Besonderheiten kann die Bedarfsgemeinschaft einen Anspruch auf Anerkennung eines Bedarfs an Umzugskosten gemäß § 22 Abs. 6 SGB II in einer Höhe von EUR 3.332,- zur Finanzierung einer Umzugsfirma geltend machen.

BSG, Urteil vom 19. März 2020 (B 4 AS 1/20.R):

Die einer Empfängerin von Alg II entstehenden Aufwendungen für ihre Ausbildung zur Heilpraktikerin stellen keinen Bedarf im Sinne der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gemäß den §§ 19 ff. SGB II dar. Hierfür geht aus dem SGB II keine Anspruchsgrundlage hervor. Leistungen zur Eingliederung in Arbeit nach den §§ 16 ff. SGB II bilden einen gegenüber den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts selbständigen Streitgegenstand.

Unter Verweis auf § 3 Abs. 2 Alg II-V geltend gemachte Ausgaben für Bekleidung stellen keine absetzungsfähigen Betriebsausgaben dar, wenn es sich hier nicht um eine typische Berufskleidung, sondern lediglich um „bürgerliche Kleidung“ handelt. Entsprechend den §§ 11 ff. SGB II erfolgt im Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende keine Saldierung von Einnahmern und Verlusten aus mehreren Gewerbebetrieben, ist hier kein „horizontaler Verlustausgleich“ vertretbar.

Maßgebende Bedeutung hat hingegen stets eine materielle Beurteilung, die sich danach richtet, ob die im Rahmen einer spezifischen Tätigkeit erzielten Einnahmen in einem direkten Zusammenhang mit den geltend gemachten Ausgaben stehen. Es muss hier eine klar erkennbare Beziehung, eine notwendige Verbindung zwischen den im Einzelnen bezifferbaren Aufwendungen und den Einnahmen nachweisbar sein (§ 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB II). Dies gebietet der bei der Einkommensanrechnung ebenfalls zur Anwendung gelangende Nachranggrundsatz (§§ 2 Abs. 2 und 3 Abs. 3, 1. Halbsatz SGB II).

Mit öffentlichen Mitteln darf die Ausübung einer Tätigkeit nicht gefördert werden, in der wegen erwiesener Unwirtschaftlichkeit die Verluste überwiegen. Dies gilt erst recht im Zusammenhang mit Ausgaben, die in Sachen einer noch gar nicht ausgeübten, sondern erst zukünftig beabsichtigten, selbständigen Tätigkeit entstehen.

Auch für freiberuflich tätige Personen hat der Grundsatz Gültigkeit, dass ein ihnen im Bedarfsdeckungszeitraum tatsächlich zur Verfügung stehendes Einkommen (§ 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II) stets zur Bedarfsdeckung heranzuziehen ist. Aus dem SGB II und der Alg II-V geht keine § 10 Satz 2 DVO zu § 82 SGB XII entsprechende Härtefallregelung hervor.

Die Absetzungsmöglichkeit durch § 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB II setzt hier im Vergleich zu den Werbungskosten im Sinne des Steuerrechts einen eigenen Rahmen. Gemäß § 9 Abs. 6 EStG handelt es sich bei Aufwendungen einer steuerpflichtigen Person, die ihr für ihre Ausbildung entstehen, nur dann um absetzbare Werbungskosten, wenn ein Steuerpflichtiger zuvor bereits eine Erstausbildung abgeschlossen hat, oder wenn die Ausbildung ihm Rahmen eines Dienstverhältnisses stattfindet.

Das Alg II soll grundsätzlich nicht dazu dienen, subsidiär eine Ausbildung in solchen Fällen zu fördern, in denen die Leistungsvoraussetzungen nach dem BAföG nicht vorliegen (§ 7 Abs. 5 SGB II). Der Gesetzgeber erwartet in verfassungsgemäßer Weise, dass Antragsteller/innen ggf. eine Ausbildung abbrechen, um ihre Arbeitskraft zur Finanzierung ihres notwendigen Lebensunterhalts einzusetzen.

Quelle: Dr. Manfred Hammel


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