Kommentierte Gerichtsentscheidungen – Teil 21

21. Februar 2020

Bundessozialgericht, Urteil vom 5. September 2019 (B 8 SO 20/18.R). § 18 Abs. 1 SGB XII soll einen niedrigschwelligen Zugang zur Sozialhilfe sicherstellen. Es reicht hier deshalb für die Vermittlung der erforderlichen Kenntnis gegenüber dem Sozialhilfeträger aus, wenn eine Notlage über Dritte (wie z. B. Angehörige einer pflegebedürftigen Person) an das Sozialamt herangetragen wird.

Diese Kenntnis leitet ein Verwaltungsverfahren ein und löst die Verpflichtung des Sozialhilfeträgers aus, den Sachverhalt von Amts wegen (§ 20 SGB X) weiter aufzuklären.
Eine von der Ehegattin einer nach § 19 Abs. 3 SGB XII leistungsberechtigten Person getätigte Erklärung in Bezug auf die Rücknahme eines in entsprechender Weise zur Kenntnis gegebenen Antrags auf Sozialleistungen kann nicht als ein Verzicht auf Sozialhilfe im Sinne des § 46 Abs. 1 SGB I, was das Erlöschen des Leistungsanspruchs zur Folge hätte, aufgefasst werden.
Ein solcher Verzicht wirkt einzig für die Zukunft und bedarf einer einseitigen, empfangsbedürftigen Willenserklärung des Sozialleistungsberechtigten, die zum Schutz vor den Folgen eines übereilten Handelns schriftlich zu erfolgen hat.

Wenn dem Sozialhilfeträger zur Kenntnis gegeben wird, dass aktuell Sozialleistungen nicht mehr begehrt werden, dann liegt hierin keine (rückwirkende) Beseitigung der Kenntnis von diesem Leistungsfall im Sinne einer sog. Negativerklärung. Die Kenntnis im Sinne des § 18 Abs. 1 SGB XII leitet (nur) das Verwaltungsverfahren ein, kann aber nicht dadurch rückwirkend entfallen, dass ein Leistungsantrag nicht mehr weiter verfolgt und ein Antrag zurückgenommen wird. Nach Aussprache der Rücknahme eines Antrags auf Sozialleistungen endet das Verwaltungsverfahren (§§ 8 ff. SGB X). Hier ist der Sozialhilfeträger nicht mehr leistungspflichtig. Seine Kenntnis vom Leistungsfall entfaltet hier keine rechtliche Wirkung mehr.

Anderes gilt an dieser Stelle nur, wenn das Sozialamt neue Hinweise auf eine weitere Notlage erhält, was auch über durch Dritte getätigte Informationen möglich ist. Bei diesen Gegebenheiten kann sich die Kenntnis von einem Leistungsfall nach einer Antragsrücknahme durchaus (erneut) aktualisieren.

LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 16. Januar 2020 (L 8 SO 109/18):

Aus § 92a SGB XII a. F. (Einkommenseinsatz bei Leistungen für Einrichtungen), aufgehoben durch Art. 13, Nr. 1h) des „Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG)“ vom 23. Dezember 2018 (BGBl. I S. 3224), ging keine eigenständige Ermächtigung zum Erlass von Heranziehungsbescheiden pflegebedürftigen Personen gegenüber hervor.

Wenn ein Sozialhilfeträger keine Leistungsgewährung nach dem sog. Bruttoprinzip, d. h. keine vollständige Kostenübernahme gegen Kostenerstattung, durchführte, besteht für eine Heranziehung des Leistungsberechtigten (oder seiner unterhaltsverpflichteten Angehörigen) auch bei stationärer Unterbringung kein Raum.

Sozialgericht Berlin, Beschluss vom 21. Januar 2020 (S 179 AS 4920/19.ER):

Von der Eröffnung eines Zugangs für die Übermittlung elektronischer Dokumente durch einen Sozialleistungsträger gemäß § 36a Abs. 1 SGB I ist auszugehen, wenn aus vom Jobcenter abgefassten Bescheiden ebenfalls die Angabe einer E-Mail-Adresse hervorgeht, sowie im gerichtlichen Datensystem des Sozialgerichts ein Datenschlüssel zur Teilnahme des Jobcenters am elektrischen mittel EGVP („Elektrisches Gerichts- und Verwaltungspostfach“) hinterlegt ist. Die in § 36a Abs. 2 SGB I normierten Voraussetzungen sind erfüllt, wenn ein Widerspruch per EGVP verschickt wurde und mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen war.

Sozialgericht Landshut, Beschluss vom 23. Januar 2020 (S 11 AY 79/19.ER):

Zur Bejahung einer teleologischen Reduktion des § 1a Abs. 7 Satz 1 AsylbLG.
Auch für die Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 7 AsylbLG ist zu fordern, dass der gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG anspruchsberechtigten Person aktuell ein pflichtwidriges Verhalten vorgeworfen werden kann.

Leistungsminderungen sind nur dann als verhältnismäßig aufzufassen, wenn die hierdurch bewirkte Belastung der betr. Klientel in einem angemessenen Verhältnis zur tatsächlichen Erreichung des legitimen Ziels steht, die Bedürftigkeit zu überwinden. Die Einreichung eines unzulässigen Asylantrags in Deutschland stellt für sich betrachtet kein Fehlverhalten im Sinne des § 1a Abs. 1 Satz 1 AsylbLG dar.

Gleiches gilt auch in Bezug auf die unterlassene Rückkehr in den für das Asylverfahren eigentlich zuständigen Staat, wenn behördlicherseits keine freiwillige, selbstständige Ausreise, sondern lediglich das Bereitstellen zur Abschiebung gefordert, aber keine Beendigung des Aufenthalts im Bundesgebiet verfügt wird. Die Anwendung der Regelbedarfsstufe 2 entsprechend § 3a Abs. 1 Nr. 1 bzw. Abs. 2 Nr. 1 AsylbLG setzt die tatsächliche und nachweisbare gemeinschaftliche Haushaltsführung der leistungsberechtigten Person mit den anderen in der Sammelunterkunft untergebrachten Menschen voraus.

Dies erscheint einzig wahrscheinlicher in familiären Verbindungen, weniger bei der gemeinsamen Unterbringung mit fremden Personen in einer Unterkunft. Der Gesetzgeber hat keine eigene Erhebung der Verbrauchsausgaben von Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG durchgeführt. Es ist als ausgeschlossen aufzufassen, dass in einer Gemeinschaftsunterkunft lebende, nicht verwandte Personen regelmäßig und ohne Berücksichtigung des Einzelfalls derart partnerschaftlich zusammenleben sowie aus einem Topf wirtschaften, dass eine Absenkung der Regelbedarfe auf 90 v. H. im Vergleich zu alleinstehenden Personen sachlich gerechtfertigt ist.

Hier muss zudem berücksichtigt werden, dass Bewohner einer Gemeinschaftsunterkunft ebenfalls individuelle Bedarfe haben können, die diese Personen eigenverantwortlich mit den von ihnen erhaltenen Geldmitteln decken wollen und dürfen. Dies gilt insbesondere für den soziokulturellen Bedarf.

LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 16. Januar 2020 (L 8 AY 22/19.B.ER):

Die Ablehnung einer nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG leistungsberechtigten Person, eine Erklärung des Inhalts abzugeben, derzufolge eine freiwillige Rückkehr in das Heimatland beabsichtigt wäre, erfüllt nicht die Voraussetzungen für eine Anwendung des § 1a Abs. 3 Satz 1 AsylbLG. Eine derartige Freiwilligkeitsklärung kann von der Ordnungsbehörde vom Antragsteller nicht gegen seinen Willen abverlangt werden.

Eine leistungsrechtliche Sanktionierung der Nichtabgabe dieser Äußerung nach § 60b Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 AufenthG rechtfertigt sich vor diesem Hintergrund nicht.
Ein entsprechendes Unterlassen stellt nur dann ein vom Antragsteller selbst zu vertretender Grund im Sinne des § 1a Abs. 3 Satz 1 AsylbLG bzw. § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG dar, wenn die betr. Person von der Ordnungsbehörde gemäß § 60b Abs. 3 Satz 2 AufenthG zuvor auf eine solche Obliegenheit ausdrücklich hingewiesen wurde.

Sozialgericht Freiburg, Beschluss vom 20. Januar 2020 (S 7 AY 5235/19.ER):

Verfassungsrechtliche Bedenken gegen § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG unter dem Aspekt des durch Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantierten Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums wie auch im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG.

Es fehlt an einer belastbaren empirischen Grundlage für die vom Gesetzgeber in § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG pauschal getätigte Unterstellung, einer in einer Gemeinschaftsunterkunft nach § 53 Abs. 1 AsylG untergebrachte, nach § 1 Abs. 1 AsylbLG leistungsberechtigte Person entstünden generell, d. h. in einer jeden entsprechenden Form der Unterbringung – unabhängig von der Art, der Größe, dem Zuschnitt und der Ausstattung – geringere Alltagsausgaben als Sozialleistungsbezieher, die bereits im Individualwohnraum leben.

Darüber hinaus besteht hier kein sachlicher Grund für eine Ungleichbehandlung von gemäß § 1 Abs. 1 AsylbLG leistungsberechtigten Personen hier und Beziehern von Leistungen nach dem SGB II oder dem SGB XII dort, deren Wohnsituation der einer Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft entspricht.

Bundessozialgericht, Urteil vom 5. September 2019 (B 8 SO 14/18.R):

Eine eheähnliche Gemeinschaft im Sinne des § 20 SGB XII liegt vor, wenn diese Lebensform auf Dauer angelegt ist, daneben keine weitere Lebensgemeinschaft gleicher Art gestattet und sich durch innere Bindungen auszeichnet, die ein gegenseitiges Einstehen der beiden Partner füreinander begründen, d. h. über die Beziehung in einer reinen Haushalts- und Wirtschaftsgemeinschaft hinausgeht.

An dieser Stelle ist nicht entscheidend darauf abzustellen, ob diese Partner ledig, verwitwet, geschieden oder mit einer dritten Person verheiratet sind. Ausschlaggebende Bedeutung hat hier, dass nach einer Ehescheidung eine Heirat rechtlich möglich ist.
Erfüllt die neue Lebensgemeinschaft die an eine Einstands- und Verantwortungsgemeinschaft zu stellenden Kriterien, dann stellt die wechselseitige Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen in dieser Partnerschaft lediglich eine rechtliche Folge der dem staatlichen Zugriff entzogenen Entscheidung in Bezug auf die Trennung vom bisherigen Ehepartner und die Zuwendung zu einem neuen Partner dar.

Frappierend sind hier Punkte wie die Verwendung der vom Antragsteller erhaltenen, einem Konto seiner Mitbewohnerin angewiesenen Rente, die sein Existenzminimum nicht vollständig deckt, die Frage, weshalb der Antragsteller an diesem Ort weiterhin wohnt bzw. wohnen kann sowie die Umstände seiner mehrmonatigen Auslandsaufenthalte.

Sozialgericht Reutlingen, Beschluss vom 13. November 2019 (S 4 AS 2464/19.ER):

Die im Zusammenhang mit der Durchführung einer notwendigen thermischen Schädlingsbekämpfung wegen Bettwanzenbefall entstehenden Aufwendungen (hier: nach Kostenvoranschlag EUR 1.200,- zuzüglich Stromkosten) stellen einen Bedarf für die Unterkunft im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II dar.

Bei einem Auftreten eines Schädlingsbefalls während des laufenden Mietverhältnis handelt es sich bei der Beseitigung dieses mietwidrigen Zustands um eine Obliegenheit der jeweiligen Mietpartei zur Sicherung eines menschenwürdigen Wohnens. Eine zeitnahe Schädlingsbekämpfung liegt überdies im öffentlichen Interesse.

Quelle: Kommentierung Dr. Manfred Hammel


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