Kommentierte Gerichtsentscheidungen – Teil 20

24. Januar 2020

LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 26. September 2019 (L 8 AY 69/15). Ein den Aufenthalt im Bundesgebiet beeinflussendes, rechtsmissbräuchliches Verhalten im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG liegt dann nicht vor, wenn eine Ausreisepflicht des betr. Ausländers unabhängig von seinem Verhalten im gesamten Zeitraum ab dem Zeitpunkt des Rechtsmissbrauchs ohnehin nicht hätte vollzogen werden können.

Nur ein Verhalten, das unter Berücksichtigung des Besonderheiten des Einzelfalls, der Situation des sich in der BR Deutschland aufhaltenden Ausländers und der speziellen Eigenheiten des AsylbLG unentschuldbar ist (Sozialwidrigkeit), führt zum Ausschluss von „Analog-Leistungen“.

Entsprechendes liegt z. B. bei Täuschungen über die wahre Identität, nicht aber bei einer Einreise in das Bundesgebiet über einen als sicher einzustufenden Drittstaat vor, denn dies allein beeinflusst nicht die Aufenthaltsdauer in einem besonderen Maße.

Dies ist nicht der Fall, wenn in Deutschland aufenthalts- oder asylverfahrensrechtlich zulässige Anträge (z. B. ein Asylantrag oder ein Antrag auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG) gestellt wurden.

Als entscheidend für die Bewertung eines rechtsmissbräuchlichen Verhaltens im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG hat es aufgefasst zu werden, wenn in der Zeit nach der Einreise in das Bundesgebiet beim Antragsteller erstmals die Symptome der später zweifelsfrei diagnostizierten Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) aufgetreten sind, was eine fachärztliche, behördlicherseits finanzierte (§§ 4 und 6 AsylbLG) Behandlung erforderlich machte, weshalb der Antragsteller in erheblicher Weise beeinträchtigt war, seinen ausländerrechtlichen Mitwirkungspflichten im hinreichenden Maße nachzukommen.

LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 23. Dezember 2019 (L 9 AY 171/19.B.ER):

Zur grundsätzlichen Bejahung eines materiellen Anspruchs auf Berücksichtigung der tatsächlichen Aufwendungen in Bezug auf die aufenthaltsrechtlich zugewiesene Unterkunft entsprechend § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG. Bei den vom öffentlichen Träger geforderten Benutzungsgebühren handelt es sich um öffentlich-rechtliche Gebührenforderungen, die einem ernstlichen Mietzinsverlangen zumindest gleichstehen.

Wenn diese Aufwendungen der Höhe nach unangemessen sein sollten, dann wären die Kosten entsprechend § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG in Verbindung mit § 35 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB XII zumindest für eine Übergangszeit von „in der Regel längstens sechs Monaten“ nach Aussprache der Kostensenkungsaufforderung behördlicherseits weiter zu übernehmen.
Der Zumutbarkeit von Kostensenkungsbemühungen sind hier allerdings enge Grenzen gesetzt, weil § 61 Abs. 1d Satz 1 AufenthG die betroffene Klientel mit einer besonderen Wohnsitzauflage konfrontiert, derzufolge nur an einem bestimmten Ort ein gewöhnlicher Aufenthalt wirksam begründet werden kann.

BSG, Urteil vom 30. Oktober 2019 (B 14 AS 2/19.R):

Der Leistungsanspruch nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II hat zum Gegenstand die Sicherung des Grundbedürfnisses des Wohnens und umfasst deshalb grundsätzlich nur die Übernahme der Aufwendungen für die tatsächlich genutzte, konkrete Wohnung, die den aktuellen, räumlichen Lebensmittelpunkt bildet und den jeweils bestehenden Wohnbedarf deckt.
Der aktuelle Unterkunftsbedarf wird grundsätzlich nur durch eine Wohnung gedeckt.
Existenzsicherungsrechtlich kommt die gleichzeitige Sicherung mehrerer Unterkünfte durch laufende Leistungen nicht in Betracht.

Eine Ausnahmelage kann hier aber der Monat des Umzugs von einer alten, aufgegebenen in eine neue Wohnung sein, wenn für beide Wohnungen vertragliche Verpflichtungen zur Leistung von Zahlungen für Unterkunft und Heizung bestehen („Doppelmiete“ bzw. „Überschneidungskosten“), und beide Wohnungen tatsächlich genutzt werden.

Wird der Unterkunftsbedarf im Monat eines Umzugs durch die tatsächliche Nutzung sowohl der bisherigen als auch der neuen Wohnung gedeckt, können die tatsächlichen Aufwendungen für beide in diesem Monat einen Lebensmittelpunkt bildenden Wohnungen als Bedarfe für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II anzuerkennen sein.

Dies setzt grundsätzlich – neben der abstrakten Angemessenheit der jeweiligen Aufwendungen – voraus, dass die zeitliche Überschneidung sowohl der vertraglichen Verpflichtungen als auch der tatsächlichen Nutzung im Einzelfall unumgehbar ist, und die Bedarfe sich hier deshalb auch als konkret angemessen darstellen.

Bei Wohnungsbeschaffungskosten im Sinne des § 22 Abs. 6 Satz 1, 1. HS SGB II handelt es sich um ergänzende Aufwendungen, die von den Leistungen nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II für Unterkunft und Heizung abzugrenzen sind.

Die Kosten für die tatsächlich genutzte Unterkunft, entweder die bisherige oder die neue, sind jeweils als ein Bedarf im Rahmen des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II anzuerkennen. Bei einer zeitlichen Überschneidung einzig der vertraglichen Verpflichtungen zu Zahlungen für Unterkunft und Heizung sowohl für die bisherige als auch für die neue Wohnung kommt die Anerkennung der Aufwendungen für die nicht tatsächlich genutzte Unterkunft einzig im Rahmen des § 22 Abs. 6 Satz 1, 1. HS SGB II in Betracht, was insbesondere eine vorherige Zusicherung des SGB II-Trägers des Wegzugsortes erfordert. Zwischen den in § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II zum einen und den in § 22 Abs. 6 Satz 1 SGB II zum anderen hinsichtlich der Unterkunftsbedarfe in Umzugssituationen getroffenen Regelungen besteht gerade kein „Entweder-oder-Verhältnis“.

Sozialgericht Neuruppin, Urteil vom 9. Dezember 2019 (S 6 AS 936/16):

Im Rahmen des von einem SGB II-Trägers vertretenen Konzepts zur Bestimmung der Angemessenheit von Kosten der Unterkunft und Heizung (§ 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II) haben die zugrunde liegenden Daten zu gewährleisten, dass erwerbsfähigen Leistungsberechtigten (§ 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II) in ausreichender Anzahl Wohnungen zum ermittelten Angemessenheitspreis zur Verfügung stehen.

Dieser zentralen Anforderung wird nicht entsprochen, wenn dieser in der kommunalen KdU-Richtlinie festgelegte Angemessenheitswert ausschließlich auf einer Berücksichtigung von Bestandsmieten beruht, ohne dass dort eine Differenzierung danach, wann die Anmietung der Wohnungen bzw. eine Änderung des Mietpreises zuletzt erfolgte, durchgeführt wurde.
Wenn zudem nur ca. 16 % der im Erhebungszeitraum erfassten Wohnungsangebote im Rahmen der Angemessenheitsgrenzen liegen, womit ungefähr nur die Hälfte des Bedarfs an günstigem Wohnraum befriedigt werden kann, dann steht für erwerbsfähige Leistungsberechtigte angemessener Wohnraum nicht im ausreichenden Maße zur Verfügung.

BSG; Urteil vom 29. August 2019 (B 14 AS 43/18.R):

Bei Ausübung des Umgangsrechts für das bei der Kindsmutter dauerhaft getrennt lebende Kind ist der Bedarf für die Unterkunft (§ 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II) weder regelhaft zu erhöhen noch kann bei einem Umgang im üblichen Umfang davon ausgegangen werden, dass kein weiterer Wohnraumbedarf besteht. Hier handelt es sich um eine Frage des Einzelfalls.

§ 22b Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 SGB II setzt zwar einen erhöhten Raumbedarf wegen der Ausübung eines Umgangsrechts voraus, bestimmt aber dessen Voraussetzungen nicht. Hieraus kann unter keinen Umständen der Schluss gezogen werden, ein Jobcenter hätte hier einen erhöhten Wohnraumbedarf gemäß § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II stets anzuerkennen.

§ 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II und der insoweit zu berücksichtigende § 22b Abs. 3 SGB II dienen dem Ziel, die Ausübung des Umgangsrechts bei Bedürftigkeit zu ermöglichen. Das Umgangsrecht eines Elternteils steht unter dem Schutz des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, weil der Umgang mit dem Kind als eine wesentliche Voraussetzung und Grundlage für die Ausübung des Elternrechts als im Interesse des Kindes stehend aufgefasst zu werden hat.

Für den nicht mit dem Kind dauernd zusammen lebenden Elternteil stellt der Umgang mit seinem Kind eine maßgebliche Voraussetzung für einen persönlichen Kontakt, damit eine nähere Beziehung zu seinem Kind aufgebaut bzw. aufrechterhalten, an seiner Entwicklung teil gehabt und der Elternverantwortung nachgekommen werden kann, dar.

Es bedarf hier jeweils einer sachgerechten Würdigung der konkreten Umstände des Einzelfalls.
Die Anerkennung eines zusätzlichen Wohnraumbedarfs kann nur in Betracht kommen, wenn es sich beim Ort des persönlichen Umgangs auch um die Wohnung der umgangsberechtigten Person handelt, sowie hängt von Faktoren wie die Anzahl der zu betreuenden Kinder, die Häufigkeit und die Zeitdauer des Umgangs, das Lebensalter und die Lebenssituation der Kinder wie die der umgangsberechtigten Person, ihr Verhältnis zum Kind, dem Verhältnis zwischen den getrennt lebenden Elternteilen und den konkreten Wohnverhältnissen ab.

Die Entscheidung, das Umgangsrecht des alleinstehenden Kindsvaters mit seiner vierjährigen Tochter stellt sich auch bei einer maximal 50 qm großen Wohnung als rechtmäßig dar, gerade wenn der Umgang im Wesentlichen nur an zwei Wochenenden pro Monat stattfindet und kein erhöhter Wohnraumbedarf (z. B. wegen einer Behinderung) geltend gemacht werden kann und besondere Rückzugsräume wegen einer kritischen Eltern-/Kind-Beziehung nicht erforderlich sind.

Sozialgericht Freiburg, Beschluss vom 24. Oktober 2019 (S 9 SO 4039/19):

Im Rahmen eines Antrags in Sachen der Gewährung eines persönlichen Budgets (§ 29 SGB IX) oder eines Vorschusses hierfür ist antragstellerseitig nicht nur der individuelle Rehabilitationsbedarf glaubhaft zu machen, sondern auch die Art und Weise, wie dieser Bedarf mit dem beantragten persönlichen Budget bzw. mit dem Vorschuss gedeckt werden soll, z. B. durch die Darlegung und Glaubhaftmachung eines Angebots oder eines substantiierten Bedarfsdeckungskonzept sowie seiner Realisierbarkeit (z. B. im Wege des sog. Arbeitgebermodells).

Ohne solche Ausführungen müssten die beantragten Mittel amtlicherseits geradezu blanko zugesprochen werden, ohne dass die gesetzlichen Ziele des persönlichen Budgets und die von § 29 SGB IX angestrebte Zweckbindung („dem Leistungsberechtigten in eigener Verantwortung ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen“) gewährleistet werden, was nicht akzeptiert werden kann.

LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 4. Dezember 2019 (L 8 AY 36/19.B.ER):

Zur Frage der Vereinbarkeit von Anspruchseinschränkungen nach § 1a AsylbLG mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG) unter Berücksichtigung der Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 5. November 2019 (1 BvL 7/16).

Soweit eine Anspruchseinschränkung amtlicherseits auf eine Einreise in das Bundesgebiet zum Zwecke des Sozialleistungsbezugs gestützt wird, dann wirft sich hier die Frage nach der Vereinbarkeit dieses Punkts mit dem GG auf. Eine Sanktion darf niemals rein repressiv ein Fehlverhalten ahnden.

Sozialgericht Hannover, Beschluss vom 20. Dezember 2019 (S 53 AY 107/19.ER):

Zur Unvereinbarkeit des § 3a AsylbLG mit höherrangigem Recht. § 3a AsylbLG verweist alleinstehende Asylbewerber, die sich in Aufnahmeeinrichtungen, Gemeinschaftsunterkünften oder vergleichbaren sonstigen Unterkünften (wie z. B. Sammelunterkünften) befinden, offensichtlich auf freiwillige Leistungen Dritter, denn diese Bestimmung geht von einem gemeinsamen Wirtschaften innerhalb der jeweiligen Schicksalsgemeinschaft aus.

Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ist in dieser Situation aber nicht durch einen gesetzlichen Anspruch gesichert, d. h. der gesetzlich Anspruch auf Gewährleistung des notwendigen Lebensunterhalts wird ohne die zusätzlichen freiwilligen Leistungen der weiteren Angehörigen dieser innerhalb der Sammelunterkunft bestehenden Schicksalsgemeinschaft nicht gedeckt.

Die Einführung der besonderen Bedarfsstufe des § 3a AsylbLG für Asylbewerber in Sammelunterkünften gründet nicht auf einer realitätsgerechten und schlüssigen Berechnung.
Ein alleinstehender Flüchtling, der in einer Sammelunterkunft untergebracht ist, befindet sich offensichtlich nicht in einer familiären Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft.

LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 28. November 2019 (L 8 SO 240/18):

Erstattung der Kosten für eine ambulante Autismus-Therapie (zwei bis drei Wochenstunden) bei einem Schulkind mit einer schwer ausgeprägten Autismusspektrumsstörung im Sinne eines frühkindlichen Autismus u. a., das als schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 80 und den Merkzeichen „B“, „G“ und „H“ anerkannt worden ist sowie von der gesetzlichen Pflegeversicherung Leistungen nach der Pflegestufe 2 bezieht, aus Mitteln der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen für eine Schulbildung (§§ 53 ff., 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII in Verbindung mit § 12 Nr. 1 EinglHVO).

Das Krankheitsbild der tiefreifenden Entwicklungsstörung im Sinne eines frühkindlichen Autismus hat grundsätzlich als eine wesentliche seelische Behinderung im Sinne des § 3 EinglHVO aufgefasst zu werden.

Wenn bei dieser Behinderten ebenfalls Schädigungen der Körperstrukturen oder der Körperfunktionen (insbesondere mit einhergehender Intelligenzminderung) bestehen, dann kann von einer wesentlich geistigen Behinderung im Sinne des § 2 EinglHVO ausgegangen werden, womit die sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe (§§ 53 ff. SGB XII) Vorrang vor den Leistungen der Eingliederungshilfe für seelisch wesentlich behinderte Kinder und Jugendliche (§ 35a SGB VII) hat.

Die Wesentlichkeit gemäß § 2 EinglHVO ist gerade dann zu bejahen, wenn die mit einer Behinderung einhergehenden Beeinträchtigungen z. B. der erfolgreichen Teilnahme am Unterricht in einer Grundschule entgegenstehen, weil Lerninhalte ohne zusätzliche Hilfestellung nicht aufgenommen und verarbeitet werden können. Eine Grundschulbildung stellt eine essentielle Basis für eine jegliche weitere Schullaufbahn dar.

Der Kernbereich der schulischen pädagogischen Arbeit wird durch die außerhalb des Schulbetriebs stattfindende Autismus-Therapie nicht berührt. Das Selbstverständnis dieser Leistung besteht in der Förderung der Aufmerksamkeit und der Konzentration sowie der kommunikativen, kognitiven und sozialen Fähigkeiten, um einen erfolgreichen Besuch der Grundschule zu ermöglichen.

Für das Erfordernis einer Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung (§ 12 Nr. 1 EinglHVO) hat nicht festzustehen, dass der Schulbesuch (allein) durch die jeweilige Maßnahme ermöglicht wird.

Es reicht aus, wenn diese Hilfe geeignet und erforderlich ist, dem behinderten Menschen den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zu erleichtern.
Eine solche Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers außerhalb des Kernbereichs der pädagogischen Arbeit der Schule ist in aller Regel zu bejahen, solange und soweit diese Bildungseinrichtung eine entsprechende Hilfe nicht gewährt.

Quelle: Kommentar Dr. Manfred Hammel

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