Der Bundesgerichtshof (BGH) hat das Urteil der Strafkammer 1 des Landgerichts Hildesheim vom 20. September 2022 (12 Ks 17 Js 16962/20; Schlagwort: Bruder) bestätigt, mit welchem eine heute 36-jährige Frau wegen versuchten Mordes zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt wurde, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Die Revision der Angeklagten hat der in Leipzig ansässige 6. Strafsenat des BGH durch Beschluss vom 4. April 2023 (6 StR 83/23) als unbegründet verworfen. Das Urteil ist damit rechtskräftig.
Das Gericht hatte sich in dem Verfahren mit einem Sachverhalt aus dem Jahr 2007 zu beschäftigen, welcher den Ermittlungsbehörden erst im Jahr 2020 bekannt geworden war. Nach den Feststellungen der Kammer war die damals 21-jährige Angeklagte am Abend des 18.12.2007 von ihrem jüngeren Bruder mit Fäusten geschlagen worden, während sie schlief. Der Bruder sei regelmäßig und auch an diesem Abend der Auffassung gewesen die Schwester würde von den Eltern bevorzugt behandelt werden, weshalb er sie angegriffen habe.
Weil die Reaktion des Vaters auf den Angriff aus Sicht der Angeklagten nicht ausreichend gewesen war, holte sie in einem Gefühl aus Hilflosigkeit, Verzweiflung und Panik ein Steakmesser aus der Küche, mit dem sie ihren Bruder stechen wollte. Als dieser gerade im Flur vor dem Spiegel stand, näherte sie sich vom Bruder unbemerkt von hinten und führte eine wuchtige Stichbewegung in die rechte Schulter des Bruders aus, um sich für die Schläge zu revanchieren. Nach den Ausführungen im Urteil entlud sich dabei die in dem von Streit geprägten Geschwisterverhältnis über Jahre angestaute Wut, wobei die Angeklagte die Gefahr einer tödlichen Verletzung billigend in Kauf genommen habe.
Wenngleich die eingetretene Verletzung nicht akut lebensbedrohlich war, so war der Stich dennoch potenziell lebensgefährlich. Der Vater der Geschwister überzeugte den Bruder jedoch davon, keine Anzeige zu erstatten, sondern im Krankenhaus als Grund für die Verletzung einen Überfall von Unbekannten anzugeben, um so einen schlechten Eindruck in der Nachbarschaft zu verhindern. Der Bruder der Angeklagten leidet seither psychisch unter dem Vorfall sowie dem Umstand, dass er nicht darüber sprechen durfte. Erst im Zusammenhang mit einem Streit zwischen dem Bruder und den Eltern im Jahr 2020 berichtete die Angeklagte selbst gegenüber der von ihr verständigten Polizei von dem Vorfall.
Die Angeklagte hat das objektive Geschehen in der Hauptverhandlung eingeräumt, einen Tötungsvorsatz jedoch in Abrede genommen. Die Kammer war dennoch nach der Beweisaufnahme davon überzeugt, dass die Angeklagte insbesondere aufgrund der hohen Gefährlichkeit der Handlung den Tod des Bruders infolge des Angriffs zumindest billigen in Kauf genommen hat. Da sich die Angeklagte von hinten angenähert und die Arg- und Wehrlosigkeit des Geschädigten ausgenutzt habe, sah die Kammer auch das Mordmerkmal der Heimtücke als erfüllt an.
Aufgrund des vorangegangenen Angriffs und einem nicht auszuschließenden Affekt ging das Gericht von einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit aus. Im Rahmen der Strafzumessung wirkten sich unter anderem die geständige Einlassung der Angeklagten, die Ausnahmesituation mit dem vorangegangenen Angriff des Bruders sowie der lange Zeitablauf aus.
Quelle: Landgericht Hildesheim