Kommentierte Gerichtsentscheidungen – Teil 30

13. Dezember 2020

Sozialgericht Nürnberg, Beschluss vom 10. Januar 2020 (S 4 SO 205/19.ER). Zur Verpflichtung zur Übernahme der Kosten eines Hausgebärdensprachkurses im Umfang von bis zu vier Stunden wöchentlich gemäß den §§ 53 ff. SGB XII aF / §§ 90 ff. SGB IX zum Erlernen der deutschen Gebärdensprache bei einem hörbehinderten (GdB: 80; Zuerkennung der Merkzeichen „G“, „B“, „H“ und „RF“), noch eine Kindertageseinrichtung besuchenden Kindes, dem beidseitig ein sog. Cochlea-Implantat (CI) angebracht worden war, das aber erhebliche Schwierigkeiten damit hatte, dem Vorschulprogramm zu folgen.

Für einen „CI-Träger“ stellt das Hören einen hohen Stress dar, so das die Möglichkeit zu bestehen hat, „Hörurlaub“ zu nehmen. Das Erlernen der Gebärdensprache kann die Teilhabe dieses behinderten Kindes am gesellschaftlichen Leben in einem erheblichen Maße verbessern, was auch in Berücksichtigung der bevorstehenden Einschulung von hoher Bedeutung ist.

LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 10. Januar 2020 (L 9 SO 150/19.B.ER):

Zur Notwendigkeit der hochfrequenten Förderung eines hör- und sprachbehinderten Kindergartenkindes in Form der Kindergartenassistenz, ausgeübt durch in der deutschen Gebärdensprache qualifizierte Dolmetscherkräfte im Rahmen einer 1 : 1 Betreuung für die Zeit des Aufenthalts in dieser Kindertagesstätte, maximal im Umfang von 30 Wochenstunden, als besondere heilpädagogische Leistung gemäß § 90 Abs. 1 SGB IX in Verbindung mit § 99 SGB IX und § 113 Abs. 2 Nr. 3 SGB IX, weil bei einem Unterlassen dieser Eingliederungshilfe die Möglichkeit, überhaupt eine Sprache zu erlernen, extrem erschwert, wenn nicht sogar unmöglich gemacht wird.

Nur mit einer solchen Leistung kann der von diesem behinderten Kind beklagten, globalen (Sprach-) Entwicklungsstörung wirksam begegnet werden. Das Erlernen der deutschen Gebärdensprache als ein vollwertiges Kommunikationssystem ist in einem solchermaßen ausgeprägten Fall dringend und zeitnah notwendig.

Sozialgericht Freiburg, Beschluss vom 16. Januar 2020 (S 9 SO 4798/19.ER):

Zur Übernahme der Kosten für einen Gebärdendolmetscher in den Fächern Biologie, Chemie und Physik bei einem 17jährigen hörbehinderten Schüler der 10. Klasse des Gymnasiums eines staatlichen Bildungs- und Beratungszentrums mit Internat (Förderschwerpunkt Hören) als eine besondere heilpädagogische Leistung zur Teilhabe an Bildung gemäß den §§ 90 ff., 99 und 112 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 / Satz 3 SGB IX.

Diese Hilfe betrifft weder die inhaltliche Bestimmung noch die Vermittlung der Lern- und Unterrichtsinhalte des Bildungszentrums oder die Bewertung von schulischen Leistungen.
Es handelt sich hier um integrierende Assistenzdienste unterstützenden Charakters, die einem hörbehinderten Gymnasiasten die vollständige Wahrnehmung des pädagogischen Angebots dieser Oberschule und damit den Schulbesuch als solchen erst ermöglichen sollen.

Der Grundsatz des Nachrangs der Eingliederungshilfe (§ 91 Abs. 1 SGB IX) greift dann nicht, wenn dieser besondere Bedarf weder durch das Bildungszentrum gedeckt wird noch der hörbehinderte Antragsteller hier eine Bedarfsdeckung durch diese Schule problemlos herbeiführen kann.

LSG Hessen, Beschluss vom 29. Januar 2020 (L 4 SO 210/19.B.ER):

Zur Verpflichtung des zuständigen Sozialhilfeträgers zur Übernahme der Kosten für einen Gebärdendolmetscher während des Schulunterrichts einer 12jährigen hörbehinderten Gymnasiastin in Bezug auf die Fächer Geschichte und Musik als Leistung zur Teilhabe an Bildung gemäß den §§ 90 ff. SGB IX in Verbindung mit § 99 SGB IX und § 112 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 / Satz 3 SGB IX als eine für den weiteren Schulbesuch notwendige Maßnahme.

Dies gilt gerade in Berücksichtigung der Tatsache des sich signifikant verschlechternden Hörvermögens dieser behinderten Schülerin wie auch der innerhalb des Klassenverbands feststellbaren Gesamtumstände. Durch die Möglichkeit, Unterrichtsinhalte durch Gebärdensprache zu verstehen, wird diese Schülerin in die Lage versetzt, ihre Hörgeräte phasenweise auszuschalten und ist hier nicht dem Lärm ihrer Klasse ausgesetzt.

Sozialgericht Würzburg, Urteil vom 30. Juni 2020 (S 6 KR 438/19):

Die Finanzierung eines Hausgebärdensprachkurses im elterlichen Heim stellt keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung (SGB V) dar. Es handelt sich hier weder um eine (n Teil einer) Krankenbehandlung nach § 27 Abs. 1 Satz 2 SGB V noch um ein Heilmittel gemäß § 32 SGB V, denn ein solcher Kurs dient weder einem Heilzweck noch sichert er einen Heilerfolg.
In diesem Rahmen wird lediglich der Versuch unternommen, das fehlende Sprachvermögen abzumildern, nicht aber zu beseitigen.

Heranziehbar ist hier einzig § 76 SGB IX(„Soziale Teilhabe“). Über die Erlernung der Gebärdensprache wird ein hör- und sprachbehinderter Mensch befähigt, mit anderen Personen kommunizieren zu können, d. h. eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ermöglicht oder erleichtert (§ 76 Abs. 1 Satz 1 SGB IX).

Wenn einem sechsjährigen Antragsteller weder ein eigenständiger Erwerb der Gebärdensprache möglich ist noch seine Eltern der Gebärdensprache umfassend mächtig sind, dann besteht hier kein Nachrang der Eingliederungshilfe nach § 91 Abs. 1 SGB IX.

Wenn ein auf Leistungen zur Sozialen Teilhabe nach den §§ 76 ff. SGB IX gerichteter Antrag bei einem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung eingeht, dieser Rehabilitationsträger (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX) diesen Antrag aber nicht innerhalb der Frist gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1, 1. HS SGB IX an den in dieser Hilfeangelegenheit eigentlich zuständigen Träger entsprechend § 14 Abs. 1 Satz 2 SGB IX unverzüglich weiterleitet, dann geht die Zuständigkeit nach allen in Betracht kommenden rehabilitationsrechtlichen Rechtsgrundlagen einzig auf diese gesetzliche Krankenkasse über.

Sozialgericht Mannheim, Beschluss vom 30. Oktober 2020 (S 3 SO 2144/20.ER):

Zur Verpflichtung des zuständigen Sozialhilfeträgers zur Übernahme der Kosten für einen Gebärdendolmetscher im Fall eines die Regelgrundschule besuchenden, hörbehinderten Kindes auch in den Unterrichtsstunden, in denen Sonderpädagogen des Bildungszentrums anwesend sind, als eine Leistung zur Teilhabe an Bildung gemäß den §§ 90 ff. SGB IX in Verbindung mit § 99 SGB IX und § 112 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 / Satz 3 SGB IX.

Der Anspruch auf Schulbegleitung auch während der Anwesenheit eines Sonderpädagogen wird nicht bereits dadurch erfüllt, dass diese soziale Fachkraft auch Dolmetscherleistungen erbringt.
Der in § 91 Abs. 1 SGB IX festgeschriebene Nachranggrundsatz gelangt dann nicht zur Anwendung, wenn der behinderte Antragsteller glaubhaft machen kann, im lautsprachlichen Unterricht zusätzlich durchgehend auf einen Dolmetscher mit den Kompetenzen eines in der Deutschen Gebärdensprache zertifizierten Dolmetschers angewiesen zu sein.

Der Sozialpädagoge erbringt Leistungen im pädagogischen Kernbereich. Bei der Tätigkeit eines Dolmetschers handelt es sich um eine wichtige flankierende Maßnahme, die eine soziale Fachkraft nur erbringen kann, sofern eine Kompetenz in der Deutschen Gebärdensprache erwiesenermaßen besteht. Dies stellt eine Voraussetzung dafür dar, dass sich der hörbehinderte Antragsteller in der Schule angemessen verständigen und dem Unterricht barrierefrei sowie insbesondere vollumfänglich folgen kann. Bereits geringe Abweichungen in der Ausführung einer Gebärde können zu völlig anderen inhaltlichen Aussagen führen.

BSG, Urteil vom 3. September 2020 (B 14 AS 41/19.R):

Die Unterbringung einer suchtkranken Antragstellerin in einem Adaptionshaus im Anschluss an eine halbjährige stationäre Suchtbehandlung hat als ein Aufenthalt in einer stationären Einrichtung aufgefasst zu werden, weshalb von einem Jobcenter die aus § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II hervorgehende Ausschlussnorm hier herangezogen werden kann.

Eine stationär versorgte, erwerbsfähige und hilfebedürftige Person ist dem Existenzsicherungssystem des SGB II nicht bereits deshalb zugeordnet, weil das Therapiekonzept der Einrichtung die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts im Umfang von mindestens 15 Stunden wöchentlich gestattet.

Übernimmt der Träger einer Adaptionseinrichtung die Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung und die Integration einer hilfebedürftigen Person, dann können erwerbsfähige Leistungsberechtigte nur dann um die Gewährung von Arbeitslosengeld II (§§ 19 ff. SGB II) nachsuchen, wenn von dieser Einrichtung aus sie tatsächlich einer Beschäftigung im Umfang von mindestens 15 Wochenstunden nachgehen (§ 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 2 SGB II).

Die eine Leistungen nach dem SGB II entsprechend § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II ausschließende Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung und die Integration einer hilfebedürftigen Person hat ein Einrichtungsträger, wenn ihm nach dem der Adaptionsphase zu deren Beginn zugrunde gelegten Therapiekonzept bis zu deren Abschluss ein bestimmender Einfluss auf die tägliche Lebensführung dieses Menschen eingeräumt ist.

Voraussetzung für eine Gesamtverantwortung in diesem Sinne sind seitens der Einrichtung ein von ihr auf die hilfebedürftige Person ausgeübter, bestimmender Einfluss auf den Alltag sowie Elemente der begleitenden Kontrolle und Beobachtung mitsamt der dazu erforderlichen Ausstattung. Parallel hierzu hat seitens der leistungsberechtigten Person ein entsprechend eingeschränktes Maß an autonomer Entscheidungsmöglichkeit, auch sich den Vorgaben des Adaptionshauses wieder zu entziehen, zu bestehen.

Hierfür sprechen nach dem therapeutischen Ansatz einer Einrichtung die von ihr verfolgten, umfassenden Therapieziele von Sozialbetreuung über Soziotherapie und Psychotherapie bis zu Arbeitstherapie und beruflicher (Neu-) Orientierung, die Breite des Angebots einschließlich einer intensiven Unterstützung bei der Bewältigung von Defiziten sowie die Erwartung des Adaptionshauses, dass sich die aufgenommenen Personen wöchentlich einem Gespräch über den Therapiefortschritt und den Ursachen der von ihnen beklagten Schwierigkeiten stellen. Dies ist ohne eingehende, vom Fachpersonal der Einrichtung getätigte Beobachtungen nicht möglich und kann z. B. in Form besonderer Kontrollvorbehalte im Hinblick auf die für die Therapie vorausgesetzte Abstinenz sowie der Möglichkeit der verfügten Entlassung aus der Adaptionsphase bei fehlender Mitarbeit und Motivation einen konkreten Niederschlag finden.

Bei dieser Form der Unterbringung werden Unterstützungsangebote des Adaptionshauses gerade nicht auf der Grundlage einer eigenen Entscheidung bzw. eines eigenen Abrufs der bedürftigen Person erbracht. Hier besteht vielmehr eine engmaschige Kontrolle und die Möglichkeit der jederzeitigen Intervention der Einrichtung als besonderer Ausdruck der permanenten (Gesamt-) Verantwortung des Einrichtungsträgers für den Therapieerfolg.

BSG, Urteil vom 3. September 2020 (B 14 AS 43/19.R):

Der einen vom Jobcenter entsprechend § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB II geltend gemachte Ersatzanspruch tragende Vorwurf der Sozialwidrigkeit des Verhaltens einer hilfebedürftigen Person ist dann begründet, wenn ein Alg II-Empfänger im Sinne eines objektiven Unwerturteils in einer zu missbilligenden Art und Weise sich selbst und seine unterhaltsberechtigten Angehörigen in die Lage gebracht hat, existenzsichernde Leistungen in Anspruch nehmen zu müssen.

Auch wenn die Tatbestände des § 31 SGB II („Pflichtverletzungen“) von einem Jobcenter nicht zu billigende Verhaltensweisen beschreiben, die auch zu Ersatzansprüchen bei sozialwidrigem Verhalten gemäß § 34 SGB II führen können, dann bedeutet dies nicht, dass jede Verwirklichung eines nach § 31 SGB II sanktionsbewehrten Tatbestands sofort einen solchen Ersatzanspruch nach sich ziehen kann.

Hier besteht ein Stufenverhältnis dieser Bestimmungen untereinander, nach dem auf die Verwirklichung eines gemäß § 31 SGB II sanktionsbewehrten Tatbestands regelhaft mit einer Minderung des Leistungsanspruchs entsprechend den §§ 31a und b SGB II zu reagieren und lediglich in einem besonders begründeten Ausnahmefall zusätzlich ein Anspruch nach § 34 SGB II erhoben werden darf.

In diesem Sachzusammenhang haben – deliktsähnlich – die in den Tatbeständen des § 31 SGB II zum Ausdruck gelangenden Verhaltenserwartungen des SGB II-Trägers von bedürftigen Personen in einem sehr hohen Maß verletzt worden zu sein.

Entsprechendes gilt auch in Sachen eines arbeitsvertraglichen Verhalten, das Anlass für die Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses gegeben und damit den Minderungstatbestand des § 31 Abs. 2 Nr. 3 oder 4 SGB II in Verbindung mit § 159 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB III („Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe“) erfüllt hat.

§ 34 SGB II stellt eine eng zu fassende Ausnahmebestimmung dar. Vorsätzlich oder grob fahrlässig im Sinne des § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB II verhält sich hiernach nur derjenige, der sich der Sozialwidrigkeit seines Verhaltens bewusst oder grob fahrlässig nicht bewusst ist, und dass das zur Inanspruchnahme von Leistungen nach den §§ 19 ff. SGB II führende Verhalten – wie z. B. der Verstoß gegen das Gebot der Trennung des Cannabiskonsums vom Führen eines Taxis im Rahmen der Fahrgastbeförderung – in vergleichbarer Weise zu missbilligen ist wie ein Verhalten, das auf die Inanspruchnahme von Alg II ausdrücklich angelegt ist.

An dieser Stelle ist von maßgebender Bedeutung, welche Vorstellungen der bislang als Taxifahrer beschäftigte Antragsteller zu den Folgen seines Cannabiskonsums während der Fahrgastbeförderung hatte, und ggf. zu beurteilen sein, ob dieses Verhalten – sofern es als grob fahrlässig im Sinne des § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB II aufzufassen sein sollte – in Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls der vorsätzlichen Herbeiführung einer Hilfebedürftigkeit im Sinne dieser Bestimmung wertungsmäßig gleich steht und deshalb als sozialwidrig eingeschätzt zu werden hat.

LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 23. Oktober 2020 (L 3 AS 116/17):

Ein Alg II-Empfänger kann einen Anspruch auf Anerkennung seiner tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II erheben, solange und sofern er vom Jobcenter nicht entsprechend § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II zur Absenkung seiner Unterkunftskosten auf das angemessene Maß ausdrücklich aufgefordert worden ist, und der SGB II-Träger ihm gegenüber hier die von ihm als angemessen im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II einzustufenden Kosten näher bezeichnet hat.

Das von einem Jobcenter zur Ermittlung der gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II als maximal anerkennungsfähig aufzufassenden Unterkunftskosten zugrunde gelegte Konzept ist rechtswidrig, wenn in diesem Zusammenhang vom SGB II-Träger ebenfalls in Wohngemeinschaften (WG) sich befindende Zimmer bei der Auswertung der erhobenen Mietangebote zur Ermittlung der angemessenen Kosten der Unterkunft für einen Ein-Personen-Haushalt mitberücksichtigt wurden. Die erhebliche Aufgabe der Privatsphäre, die mit der Wohnform „WG“ einhergeht, steht einer Einbeziehung dieser Unterkünfte in die Ermittlung der nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II abstrakt angemessenen Aufwendungen entgegen.

Bei der Ermittlung grundsicherungsrechtlich anerkennungsfähiger Unterkunftskosten dürfen lediglich die Daten von Wohnungen mit herangezogen werden, die der Gesamtheit der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten abstrakt zumutbar sind.
Die individuelle Entscheidung einzelner, in der Regel jüngerer Menschen für eine solche, gemeinschaftliche Wohnform darf nicht im Rahmen der abstrakten Angemessenheit von Unterkunftskosten fremdbestimmt auf sämtliche Empfängerinnen und Empfänger von Alg II übertragen werden.

Zahlreiche erwerbsfähige Leistungsberechtigte sind persönlich für ein Leben in einer WG, das ein hohes Maß an Kompromissbereitschaft und Teamfähigkeit erfordert, nicht geeignet.

OVG Sachsen, Beschluss vom 28. Oktober 2020 (3 D 42/20):

Zum Verhältnis von Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz (UVG) zu denen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II). Leistungen nach dem UVG dienen nicht der Existenzsicherung, sondern der wirtschaftlichen Entlastung des Haushalts des allein erziehenden Elternteils.

Hieraus folgt kein allgemeiner Vorrang von Leistungen gemäß den §§ 19 ff. SGB II. Die nach dem UVG bewilligten Mittel sollen einer Angewiesenheit einer allein erziehenden Person auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende entgegen wirken. Der aus § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II folgenden Obliegenheit entsprechend sind Leistungen nach dem UVG vorrangig in Anspruch zu nehmen.

Eine Verletzung der Mitwirkungspflicht im Unterhaltsvorschussverfahren nach § 1 Abs. 3, 3. Alt UVG (hier: Feststellung des Aufenthalts des Kindsvaters) führt nicht automatisch zu einem Ausschluss von Leistungen nach den §§ 19 ff. SGB II. § 5 Abs. 3 Satz 3 SGB II setzt für einen Entzug oder eine Versagung von Alg II voraus, dass ein allein erziehender Elternteil einen Anspruch – z. B. auf eine Unterhaltsleistung gemäß § 2 UVG – geltend machen kann. Bei einer unterlassenen Mitwirkung nach § 1 Abs. 3, 3. Alt. UVG schließt diese Norm die Entstehung eines Anspruchs auf diese Unterhaltsleistung von vornherein aus.

Eine Verletzung der Mitwirkungspflicht gemäß § 1 Abs. 3, 3. Alt. UVG liegt vor, wenn z. B. die Kindsmutter unter keinen Umständen bereit ist, im Zusammenwirken mit dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe das ihr Mögliche und Zumutbare zu unternehmen, um zur Feststellung der Vaterschaft und des Aufenthalts des Kindsvaters nach ihren Kräften beizutragen, oder sich hier in Widersprüche verwickelt und unglaubhafte Angaben zum Kindsvater tätigt. Entsprechendes ist nicht zu bejahen, wenn die Kindsmutter dem Jugendamt gegenüber Daten und Fakten vorträgt, die Aufschluss über die Identität des Kindsvaters geben.

Sozialgericht für das Saarland, Beschluss vom 22. Juli 2020 (S 25 AY 15/20.ER):

Eine Sanktionierung entsprechend § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG hat als rechtswidrig aufgefasst zu werden, wenn einem in Deutschland sich aufhaltenden Asylbewerber es objektiv nicht möglich ist, den ihm bereits durch den EU-Staat Griechenland gewährten Asylschutz wahrzunehmen, wenn aufgrund der Corona-Pandemie eine Einreise in dieses Land nicht durchgeführt werden kann.

Ein Bescheid über eine Anspruchseinschränkung gemäß § 1 Abs. 4 Satz 2 AsylbLG gibt einen belastenden Verwaltungsakt im Sinne des § 28 Abs. 1 VwVfG bekannt, vor dessen Erlass die hiervon betroffene Person Gelegenheit zu erhalten hat, sich zu den für diese Entscheidung maßgebenden Punkten zu äußern. Ein diesbezügliches Unterlassen der zuständigen Behörde verkörpert einen schweren Anhörungsmangel, der regelmäßig zur Rechtswidrigkeit einer dennoch verfügten Anspruchseinschränkung führt.

Äußerungen und Stellungnahmen von Beteiligten, die im gerichtlichen Eilverfahren nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG erfolgen, sind grundsätzlich nicht als eine nachträgliche Anhörung der betroffenen Person aufzufassen. Zur Verneinung eines öffentlichen Interesses an der Vollziehung eines auf einer verfassungsrechtlich bedenklichen Absenkungsregelung (§ 1a AsylbLG) beruhenden Verwaltungsakts.

Sozialgericht Aachen, Urteil vom 21. August 2020 (S 19 AY 1/20):

Für eine Anpassung der Regelsätze gemäß § 3a AsylbLG bedarf es keiner gesonderten gesetzgeberischen Entscheidung. § 3a Abs. 4 Satz 1 AsylbLG gibt in Sachen der Bedarfssätze der Grundleistungen den Modus der Anpassung und die konkrete Höhe vor, so dass die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen durch den Gesetzgeber getroffen worden sind.
Bei § 3a Abs. 4 AsylbLG handelt es sich um eine Anpassungsvorschrift, die sich an die das AsylbLG vollziehenden Kommunen richtet und diesen öffentlichen Trägern eine Anpassung nach dem in dieser Norm fixierten Anpassungsmodus vorgibt.

Wenn eine Bekanntgabe des Bundesministerium für Arbeit und Soziales entsprechend § 3a Abs. 4 Satz 3 AsylbLG nicht rechtzeitig erfolgt, dann kann der einzelne öffentliche Träger eigenverantwortlich eine Festsetzungsentscheidung durchführen und vollziehen.

LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 6. Oktober 2020 (L 7 AS 66/19):

Die Kosten für digitale Geräte, wie z. B. eines Tablets zur Teilnahme an einer iPad-Klasse im Fall einer bedürftigen Oberschülerin (EUR 461,90), sind bereits vom Regelbedarf im Sinne des § 20 Abs. 1 SGB II erfasst. Darüber hinaus sind im sog. Schülerstarterpaket nach § 28 Abs. 3 SGB II in Verbindung mit § 34 Abs. 3 SGB XII ebenfalls Kosten für die digitale Ausstattung von Schülerinnen und Schülern mit enthalten.

Von einem Bestehen eines Härtefallmehrbedarfs nach § 21 Abs. 6 SGB II ist hier nicht auszugehen. Im Gegensatz zu in jedem Schuljahr neu anzuschaffenden Schulbüchern wird ein iPad nur einmal erworben. Hier besteht keine laufende, sondern einzig eine einmalige Bedarfslage.
Die von § 21 Abs. 6 SGB II geforderte atypische Bedarfslage kann zwar in Bezug auf die Software und auf die im Digitalunterricht verwendeten Apps übertragbar sein, nicht aber auf das Tablet selbst.

Die Deckung von Bedarfen für die Schule, die der Durchführung des Unterrichts selbst dienen, liegt in der Verantwortung der Schule und darf von dieser Bildungseinrichtung und ihrem Träger nicht auf das Leistungssystem der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) abgewälzt werden.
Ein Tablet in einer iPad-Klasse hat von der Schule bedürftigen Schülerinnen und Schülern im Rahmen der Lernmittelfreiheit gestellt zu werden.

Zur Deckung der Digitalisierungsbedarfe ist vom Jobcenter hier – zusätzlich zur Ansparrate des Regelbedarfs – zur Finanzierung eines iPad als eine einmalige Anschaffung lediglich zu gewährleisten, dass dieser besondere Bedarf, sofern er nicht von der Schule gedeckt wird, durch die Gewährung eines Darlehens nach § 24 Abs. 1 Satz 1 SGB II zwischenfinanziert werden kann. Hierdurch wird es Personen, die auf Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nach den §§ 19 ff. SGB II angewiesen sind, ermöglicht, an einer iPad-Klasse teilzunehmen, was einer Stigmatisierung dieses Personenkreises entgegenwirkt.

Die Anerkennung eines unabweisbaren Bedarfs im Sinne des § 21 Abs. 6 SGB II darf nicht erfolgen, wenn die Teilnahme von Schülerinnen und Schülern an einer iPad-Klasse weder von der Oberschule vorgeschrieben noch zur Erfüllung des Bildungsauftrags dieser Schule unabdingbar erforderlich war. Die Zusammenstellung von iPad-Klassen wurde ausschließlich mit Zustimmung der Eltern eingeführt.

Einer bedürftigen Schülerin ist es hier zumutbar, in eine Klasse ohne iPad-Nutzung oder auf eine andere Oberschule, wo solche Klassen nicht bestehen, zu wechseln. Auch ohne eine Teilnahme an einer iPad-Klasse ist der Besuch einer weiterführenden Schule und das Erreichen des Schulabschlusses möglich.

Ein Sofortkauf eines Tablets ist nicht angezeigt. Als zumutbare Alternative kommt hier der Mietkauf eines iPads in Betracht. Die in diesem Rahmen über einen Zeitraum von 36 Monaten hinweg anfallenden Monatsraten in einer Höhe von EUR 10,90 kann auch eine bedürftige Schülerin problemlos aufbringen. Gegen eine die analoge Anwendung des § 21 Abs. 6 SGB II gestattende, planwidrige Regelungslücke spricht die vom Gesetzgeber während der COVID-19-Pandemie bestätigte Zuordnung des digitalen Schulbedarfs an ein Leistungssystem außerhalb des SGB II. Es handelt sich hier um eine Aufgabe, der die Schulverwaltung im Rahmen des den Bundesländern zur Verfügung gestellten Bedarfspaket „Digitales Klassenzimmer“ umfassend zu entsprechen haben.

OVG Sachsen, Urteil vom 15. Oktober 2020 (3 A 229/19):

Keine Verneinung des Wohngeldanspruchs wegen missbräuchlicher Inanspruchnahme von Wohngeld entsprechend § 21 Nr. 3 WoGG, weil der nicht erwerbstätige Familienvater in keiner Weise durch die Ausübung eigener, zumutbarer Arbeit zur Einkommenserzielung beiträgt, und er über fremdvermietetes Immobiliarvermögen verfügt.

Ein erhebliches Vermögen im Sinne des § 21 Nr. 3 WoGG liegt in der Regel vor, wenn die Summe des verwertbaren Vermögens der zu berücksichtigenden Haushaltsmitglieder EUR 60.000,- für das erste zu berücksichtigende Haushaltsmitglied und EUR 30.000,- für jedes weitere zu berücksichtigende Haushaltsmitglied übersteigt.

Dies liegt bei einem fremdvermieteten Hausgrundstück, dessen Marktwert nur geringfügig über diesen Richtsätzen liegt, nicht vor, gerade wenn der Mietvertrag voraussichtlich nur noch kurze Zeit über bestehen, und die Familie dann in diese Immobilie umziehen wird.
Ob es einem Haushaltsmitglied zuzumuten ist, durch die Ausübung einer Tätigkeit zur Einkommenserhöhung beizutragen, kann nur anhand der den jeweiligen Einzelfall prägenden Umstände entschieden werden. Hierbei ist behördlicherseits kein allzu strenger Maßstab anzulegen.

Von einem bewussten Unterlassen der Ausübung einer Erwerbstätigkeit darf nicht ausgegangen werden, wenn ein Familienvater darauf verweisen kann, er hätte sich nach seiner Elternzeit und der Absolvierung von Weiterbildungsmaßnahmen im Schnitt einmal wöchentlich beworben, um eine seiner Vorbildung entsprechende Anstellung zu erhalten. Seine Gattin ist während ihres noch andauernden Hochschulstudiums die Ausübung von Arbeit zur Finanzierung des notwendigen Lebensunterhalts nicht zuzumuten.

LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 4. Mai 2020 (L 1 AS 2007/19):

Die Miete für die mit einer Wohnung zusammen angemieteten Garage kann als ein unter § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II subsumierbarer Kostenpunkt aufgefasst werden. Hier ist eine weite Auslegung gestattet. § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II umfasst sämtliche Aufwendungen, die ein erwerbsfähiger Leistungsberechtigter zu tragen hat, um sich im Besitz des ihm überlassenen, angemessenen Wohnraums zu halten.

Die Kosten einer Garage oder eines Stellplatzes, der mit dem Wohnraum zusammen vermietet wird, sind vom Jobcenter gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II in dem Fall zu übernehmen, wenn die Wohnung ohne die Garage bzw. den Stellplatz nicht anmietbar ist, und die Miete sich bei fehlender „Abtrennbarkeit“ der Garage oder des Stellplatzes noch innerhalb des Rahmens der Angemessenheit von Kosten der Unterkunft nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II für den jeweiligen Wohnort hält.

Dies ist der Fall, wenn ein erwerbsfähiger Leistungsberechtigter weder rechtlich noch faktisch die Möglichkeit hat, seine mietvertragliche Zahlungspflicht für den ihm mitvermieteten Stellplatz bzw. die Garage zu beenden, ohne damit den weiteren Bestand des gesamten Mietverhältnisses zu gefährden, d. h. ein einheitlicher Mietvertrag über Wohnung und Stellplatz vorliegt, der weder eine Teilkündigung noch eine Untervermietung gestattet, und die gesamten Kosten der Wohnung (einschließlich für Stellplatz bzw. Garage) für die jeweilige Bedarfsgemeinschaft als angemessen im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II aufzufassen sind.

Aus § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB II geht keine gesetzliche Grundlage, die ein Jobcenter berechtigt, einem erwerbsfähigen Leistungsberechtigten die Obliegenheit zur Untervermietung eines Kfz-Stellplatzes aufzuerlegen, obwohl die geltend gemachten Kosten der Unterkunft in ihrer Gesamtheit als angemessen im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II einzuschätzen sind, hervor. Aus diesem allgemeinen Programmsatz („Grundsatz des Forderns“) lässt sich keine Pflicht zur Bedarfssenkung, sondern einzig zur Einnahmeerzielung ableiten.

LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21. September 2020 (L 10 AS 1093/20.B.PKH):

Die Leistungspflicht des SGB II-Trägers setzt nicht erst dann ein, wenn zwischen Sozialleistungsträgern Unstimmigkeiten über das Bestehen einer Erwerbsfähigkeit (§§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 8 Abs. 1 SGB II in Verbindung mit § 44a Abs. 1 Satz 1 SGB II) ausgetragen werden. Leistungen nach den §§ 19 ff. SGB II beanspruchende Antragstellerinnen und Antragsteller sind bereits im Vorfeld in der Weise zu stellen, als bestünde bei diesen Personen eine volle Erwerbsfähigkeit.

Ein SGB II-Träger darf nicht von einer fehlenden Erwerbsfähigkeit ausgehen, ohne nicht zuvor den zuständigen Sozialhilfeträger eingeschaltet zu haben. Ab dem Zeitpunkt einer negativen Feststellung über die Erwerbsfähigkeit durch die Agentur für Arbeit sind vom Jobcenter Nahtlosigkeitsleistungen gemäß § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II zu erbringen, bis der andere Sozialleistungsträger seine Zuständigkeit anerkannt, oder die Arbeitsagentur über den Widerspruch entschieden hat.

Die Leistungspflicht des Jobcenters auch vor Einleitung des besonderen Widerspruchsverfahrens und damit über den reinen Wortlaut des § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II hinaus rechtfertigt sich aus dem Sinn und Zweck dieser Regelung, Antragstellerinnen und Antragstellern, die existenzsichernde Leistungen begehren, auch im Fall eines „unausgesprochenen“ negativen Kompetenzkonflikts nicht in gleicher Weise „zwischen die Stühle“ geraten zu lassen wie im Fall eines durch die Einleitung eines Widerspruchsverfahrens sich aktualisierenden Zuständigkeitsstreits.

Da § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II keine vorläufige Leistungspflicht im Sinne des § 43 SGB I verfügt, sondern eine im Außenverhältnis zur berechtigten Person endgültige Leistung nach dem SGB II, ändert sich an dieser Fiktion der Erwerbsfähigkeit auch in dem Fall nichts, wenn sich im Nachhinein herausstellen sollte, dass für den Zeitraum, für den Leistungen in Berücksichtigung der in § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II festgeschriebenen Nahtlosigkeitsregelung erbracht worden sind, keine Erwerbsfähigkeit bestanden hat. In dieser Situation kommt eine nur vorläufige Gewährung von Leistungen entsprechend § 41a Abs. 1 SGB II in Verbindung mit den §§ 19 ff. SGB II mit der Begründung der Prüfung eines vorrangigen Rentenanspruchs nicht in Betracht.

Quelle: Dr. Manfred Hammel

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