Ist eine Elfjährige mitschuldig an einem Unfall?

29. August 2022

Celle/Berlin (DAV). Bei der Beurteilung der Frage, ob ein elfjähriges Kind beim Überqueren einer Straße ein Mitverschulden an einem Verkehrsunfall trifft, muss die Überforderung eines Kindes berücksichtigt werden. Insbesondere bei Dunkelheit kann es eine Gefahrenlage im Straßenverkehr nicht richtig einschätzen.

Der Autofahrer haftet allein, wenn eine Gruppe von Kindern bereits vorher die Straße überquert hatte. Die Arbeitsgemeinschaft Verkehrsrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV) informiert über eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Celle vom 19. Mai 2021 (AZ: 14 U 129/20).

Kurz vor Weihnachten überquerte die damals elfjährige Klägerin als letztes von vier Kindern kurz vor 8:00 Uhr morgens eine Straße in der Nähe ihrer Schule. Es war noch dunkel und eines der anderen Kinder trug eine gelb reflektierende Jacke. Dieser Gruppe näherte sich ein Auto mit mindestens 55 km/h anstatt erlaubter 50 km/h. Kurz bevor die Klägerin den Bürgersteig erreichte, wurde das Kind vom Auto erfasst. Das Mädchen erlitt durch den Unfall insbesondere einen Beckenbruch, einen Darmriss und eine Mittelgesichtsprellung und wurde mehrtägig stationär behandelt. Sie klagte und verlangte ein Schmerzensgeld und die Verpflichtung, für künftige unfallbedingte Schäden aufzukommen.

Das Landgericht hatte noch ein Mitverschulden der Klägerin angenommen, aufgrund dessen ihre Ansprüche um 25 Prozent gemindert seien. Das Oberlandesgericht änderte die Entscheidung und gab dem Mädchen in vollem Umfang Recht. Das Gericht sah jedenfalls ganz überwiegend die Schuld beim Fahrer. Er hätte sich so verhalten müssen, dass eine Gefährdung insbesondere von Kindern, hilfsbedürftigen und älteren Menschen ausgeschlossen sei – und besonders, als er die Kinder im Straßenbereich wahr nahm. Darüber hinaus hätte er den Unfall auch verhindern können, wenn er nur die zulässige Höchstgeschwindigkeit eingehalten hätte.

Zwar hatte sich das Kind ebenfalls falsch verhalten, es hatte den vorfahrtsberechtigten Fahrzeugverkehr nicht ausreichend beachtet. Das Kind treffe aber kein Verschulden. Kinder könnten ohnehin erst ab Vollendung des zehnten Lebensjahres für Unfälle im Straßenverkehr verantwortlich sein. Die nur unwesentlich ältere Klägerin sei nachvollziehbarer Weise überfordert gewesen. Das Kind habe sich schon auf der Straße befunden, als es das Auto wahrnahm. Sie hatte Entfernung und Geschwindigkeit dieses Fahrzeugs auch durch die Dunkelheit falsch eingeschätzt und reflexhaft die falsche Entscheidung getroffen, der Gruppe hinterherzulaufen. Der Fahrer habe sich auch nicht darauf verlassen dürfen, dass sich das Kind richtig verhalten werde.

Neben dem Schadensersatz sprach das Gericht der Klägerin auch ein Schmerzensgeld zu, das mit insgesamt 35.000 € noch deutlich über den Vorstellungen der Klägerin selbst lag. Die Klägerin habe schwere Verletzungen und Dauerschäden, u.a. im Genitalbereich, mit möglichen Risiken auch bei späteren Schwangerschaften erlitten. Aufgrund ihres jungen Alters habe sie noch lange an den Verletzungsfolgen zu tragen. Dies sei bei der Schmerzensgeldbemessung bislang nicht berücksichtigt worden.

Quelle und Information: www.verkehrsrecht.de

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