1 BvL 7/16 – ein fast schon schizophrenes Urteil

14. Februar 2020

Zu diesem Thema ist auf folgende Leserzuschrift hinzuweisen: Das BVerfG hat in „1 BvL 7/16“ ein fast schon schizophrenes Urteil editiert. Richtig ist, dass vielfach betont wird, dass auch „Schuld“ oder „unvernünftiges Verhalten“ NICHT den Verlust der Menschenwürde nach sich ziehen.

Weitestgehend liest das Urteil sich so, als ob Sanktionen nicht auf die Höhe einer 60%-Kürzung steigen dürfen. (Die Bewertung der 10%-Kürzungen wurde ausdrücklich ausgespart!!!) Das mehr als dicke Ende kommt jedoch bei der Randnummer 209, wo Folgendes geurteilt ist:

„Anders liegt [es], wenn und solange Leistungsberechtigte es selbst in der Hand haben, durch Aufnahme einer ihnen angebotenen zumutbaren Arbeit (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II) ihre menschenwürdige Existenz tatsächlich und unmittelbar durch die Erzielung von Einkommen selbst zu sichern. Ihre Situation ist dann im Ausgangspunkt derjenigen vergleichbar, in der keine Bedürftigkeit vorliegt, weil Einkommen oder Vermögen aktuell verfügbar und zumutbar einsetzbar sind. Wird eine solche tatsächlich existenzsichernde und im Sinne des § 10 SGB II zumutbare Erwerbstätigkeit ohne wichtigen Grund im Sinne des § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II willentlich verweigert, obwohl im Verfahren die Möglichkeit bestand, dazu auch etwaige Besonderheiten der persönlichen Situation vorzubringen, die einer Arbeitsaufnahme bei objektiver Betrachtung entgegenstehen könnten, ist daher ein vollständiger Leistungsentzug zu rechtfertigen.“

(Man sehe auch den Tenor plus die Rn.n 124 & 139.)

Wegen der Rn 209 sieht’s also so aus: 100%-Kürzungen gelten weiterhin als verfassungsgemäß!!!

Wer die Totalverweigerung durchziehen möchte, wird wegen der Passage der Rn 209 „auf Granit beißen“ (und letztlich „ins Gras beißen“). Deshalb liegen Laumann und seine Konsorten formaljuristisch völlig richtig.

Übrigens, auf dass kein Missverständnis entstehe: Ich bin objektivistisch gesehen ein Analytiker, subjektivistisch ein Linker.

Nochmals: Das Urteil klingt alles in allem leicht schizophren, denn: Was ist nun gewichtiger?: Des Staates absolute Pflicht der Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums — oder die Pflicht des Individuums, ohne „wirkliche Bedürftigkeit“ (also bei Arbeitsfähigkeit) selbst das Brot zu erwerben???

Dass ein dermaßen zwiespältiges Urteil überhaupt editiert worden ist, ist ein Kracher.

Übrigens2: Dass keinerlei Aussagen getroffen worden sind betreffend 40%- und 50%-Sanktionen (wegen zeitlicher Überlappungen), ist ein riesiges und übles Defizit des Urteils.

Sehr verblüffend ist auch folgender Satz (Rn 225): „Die Entscheidung ist im Ergebnis einstimmig ergangen.“ Was die Aussage „im Ergebnis einstimmig“ bedeutet, ist rätselhaft, weil sie ansonsten nie in Beschlüssen und Urteilen aufgetaucht war. Darf man folgern, dass der Text deswegen zwiespältig ist, weil er von widerstreitenden Fraktionen gemeinsam editiert wurde, damit verhehlt werden konnte, dass im Senat ein kolossaler Dissens (4:4) bestand?!?

Mit hinweisendem Gruß … Quelle Leserzuschrift Sozialticker

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