Kommentierte Gerichtsentscheidungen – Teil 18

22. November 2019

BSG, Urteil vom 11. Juli 2019 (B 14 AS 51/17.R). Einer wirksamen Antragstellung auf Alg II (§§ 19 ff. SGB II) steht nicht entgegen, wenn vom Antragsteller dem Jobcenter ein entsprechendes Begehren per E-Mail zugeleitet wurde. Der Antrag auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) ist nach § 37 SGB II grundsätzlich an keine Form gebunden, weil auch hier der Grundsatz der Nichtförmlichkeit des Verwaltungsverfahrens (§ 9 SGB X) volle Gültigkeit hat.

Das Antragserfordernis des § 37 SGB II verlangt weder die Schriftform gemäß § 126 Abs. 1 BGB noch die persönliche Meldung bei der Behörde. Entsprechendes gilt gerade dann, wenn das Jobcenter einen Zugang für die Kommunikation per E-Mail eröffnet hat (§ 36a Abs. 1 SGB I), der die Einreichung von Leistungsanträgen nicht ausschließt. Gemäß § 37 Abs. 1 SGB II hat ein Antrag zunächst konstitutive Wirkung für einen Leistungsanspruch.

Darüber hinaus hat dieser Antrag auch eine verfahrensrechtliche Bedeutung, weil mit der Antragstellung das Verwaltungsverfahren in Gang gesetzt wird. Ab diesem Zeitpunkt unterliegt der SGB II-Träger der Verpflichtung, das Bestehen eines Leistungsanspruchs zu prüfen und zu bescheiden. Der Tag der Antragstellung bildet die maßgebliche Zäsur. Hiervon gehen entscheidende leistungsrechtliche Wirkungen aus.

Von frappierender Bedeutung für den Leistungsanspruch im Antragsmonat ist ausschließlich der Aspekt, dass im jeweiligen Monat überhaupt ein entsprechender Antrag in den Macht- oder Willensbereich eines Jobcenters gelangt ist. Ein in den Abendstunden eines 30. Januar beim Jobcenter per E-Mail eingegangener Leistungsantrag wirkt gemäß § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB II auf den Ersten dieses Monats zurück.

Verwaltungsgericht Meiningen, Urteil vom 20. August 2019 (2 K 449/17.Me):

Der Ausschluss vom Wohngeldbezug gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 WoGG greift nur bei Personen, die tatsächlich Leistungen nach den §§ 41 ff. SGB XII erhalten, nicht aber bei Antragstellern, die um Wohngeld nachsuchen, obwohl bei ihnen ebenfalls die Voraussetzungen für den Bezug von Hilfe zum Lebensunterhalt erfüllt wären.

Es ist nicht zu missbilligen, wenn ein Anspruchsberechtigter von zwei vom Staat ihm eröffneten Förderungsmöglichkeiten die für ihn aus seiner Sicht günstigere auswählt. Dies gilt gerade dann, wenn der Antragsteller die Voraussetzungen für den Bezug von Leistungen nach dem SGB XII bei sich erst noch schaffen müsste, indem er bei ihm noch bestehendes Vermögen verwertet (§ 90 Abs. 1 SGB XII).

Ein Ehepartner einer vollstationär in einer Einrichtung der Hilfe zur Pflege (§§ 61 ff. SGB XII) untergebrachten Person, der im einst gemeinsamen Eigenheim wohnen bleibt und zur Aufstockung der ihm noch verbliebenen Rentenmittel um Wohngeld nachsucht, kann gemäß § 18 Satz 1 Nr. 3 WoGG einen Abzugsbetrag vom Renteneinkommen in einer Höhe von bis zu EUR 6.000,- jährlich beanspruchen.

Aus dieser Unterbringung des pflegebedürftigen Ehegatten folgt zwar kein Getrenntleben im familienrechtlichen Sinne (§ 1567 Abs. 1 BGB), wenn auch hier ein Fehlen einer weiteren häuslichen Gemeinschaft dieser beiden Menschen zu bejahen ist.

Über § 18 Satz 1 Nr. 3 WoGG sollen gerade nicht die wechselseitigen Fürsorgebemühungen eine Berücksichtigung erfahren, sondern faktische Mittelabflüsse an den pflegebedürftigen Ehegatten, die dem Wohngeldberechtigten tatsächlich nicht selbst verbleiben.
Es verbietet sich hier eine Benachteiligung von Partnern einer intakten Ehe, die in getrennten Haushalten leben, gegenüber geschiedenen und dauerhaft getrennt lebenden Ehepaaren.
Hier bestehen sozialrechtlich anerkennenswerte Motive von Ehegatten, über verschiedenen Wohnraum zu verfügen, die einer Rechtfertigung der Ungleichbehandlung von Eheleuten mit dem Argument eines gemeinsam zu nehmenden Wohnraums entgegenstehen.

Bei der eine Heimunterbringung erforderlich machenden Pflegebedürftigkeit eines der Ehegatten handelt es sich um ein Getrenntleben als Folge äußerer Einflüsse, auf die die Ehepartner keinen Einfluss haben. Richtigerweise ist hier deshalb unter Berücksichtigung des Zwecks des Wohngelds als einer Leistung zur sozialen Wohnraumsubjektförderung und des Schutzes der Ehe gemäß Art. 6 Abs. 1 GG einzig darauf abzustellen, ob die Ehegatten dauerhaft faktisch zwei getrennte Haushalte führen müssen. Der dauerhaft getrennt lebende Ehepartner stellt kein Haushaltsmitglied nach § 5 Abs. 1 Satz 2 WoGG dar, weil bei einer ständigen Unterbringung im Pflegeheim am Einrichtungsort ein neuer Lebensmittelpunkt wirksam begründet wurde.

OVG Sachsen, Beschluss vom 18. Juli 2019 (Az.: 3 D 41/19):

Zum Verstoß gegen die Mitwirkungspflicht einer allein erziehenden Mutter nach § 1 Abs. 3 UVG.

Sozialgericht Berlin, Urteil vom 28. Oktober 2019 (S 70 SO 21/18):

Ein (etwaiger) Anspruch eines Antragstellers auf Bewilligung von Wohngeld nach dem WoGG stellt kein vom Sozialhilfeträger zu berücksichtigendes Einkommen im Sinne des § 82 Abs. 1 Satz 1 SGB XII dar. Von einem solchen Einkommen ist nur dann auszugehen, wenn es im Bedarfszeitraum dem Antragsteller tatsächlich zufließt und dieser Person als „bereites Mittel“ problemlos zur Verfügung steht.

Ein Bezieher einer Altersrente gemäß § 35 SGB VI in einer Höhe von monatlich ca. EUR 800,- hat nicht aufgrund des aus § 2 Abs. 1 SGB XII hervorgehenden Nachranggrundsatzes der Obliegenheit zu entsprechen, Wohngeld zu beantragen. Bei § 2 Abs. 1 SGB XII handelt es sich um keine eigenständige Ausschlussnorm.

Das bloße Bestehen von Ansprüchen gegen Dritte, die vom Leistungsberechtigten nicht durchgesetzt werden, führt noch nicht zu einem Leistungsausschluss.
Eine vom Sozialamt einzig auf § 2 Abs. 1 SGB XII gestützte Ablehnung wegen eines möglichen Anspruchs auf Wohngeld nach dem WoGG, ohne dass dem Leistungsberechtigten wirklich entsprechend „bereite Mittel“ zufließen, lässt sich mit der Gesetzessystematik nicht vereinbaren.

BSG, Urteil vom 29. Mai 2019 (B 8 SO 8717.R):

Bedarfe für die Verlängerung eines ausländischen Passes (hier: Weißrussland) lösen keine sonstige Lebenslage im Sinne des § 73 Satz 1 SGB XII aus. Bei den Kosten für die Passbeschaffung von Ausländern, die sowohl die vom Heimatstaat allgemein erhobenen Gebühren als auch die Folgekosten durch notwendige Übersetzungen und Beglaubigungen sowie die Fahrten zur Botschaft umfassen, handelt es sich um solche Aufwendungen, die vom Regelbedarf (§ 27a Abs. 2 Satz 1 SGB XII in Verbindung mit § 28 SGB XII) erfasst sind.

Insbesondere die Vorschrift des § 27a Abs. 4 SGB XII, die einem Sozialhilfeträger eine abweichende Bemessung des Regelbedarfs ermöglicht, verdeutlicht, dass eine Bedarfslage, die vom Regelbedarf erfasst ist, aber beim Leistungsempfänger in atypischem Umfang besteht, nicht über § 73 Satz 1 SGB XII gedeckt wird.

Für Leistungsberechtigte nach dem SGB XII kommt wegen entsprechender, notwendiger Kosten die Gewährung eines ergänzenden Darlehens auf der Grundlage von § 37 Abs. 1 SGB XII (i. V. m. § 42 Nr. 5 SGB XII) in Betracht.

Erwerbsfähige Leistungsberechtigte (§ 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II) können hier gegen das Jobcenter einen Anspruch auf Gewährung eines Darlehens gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 SGB II geltend machen. § 21 Abs. 6 SGB II kommt an dieser Stelle als Anspruchsgrundlage nicht in Betracht, weil aufgrund der Gültigkeitsdauer eines Passe in keiner Weise von einem regelmäßig wiederkehrenden Bedarf ausgegangen werden kann.

BSG, Urteil vom 29. Mai 2019 (B 8 SO 14/17.R):

Bei den Kosten für die Passbeschaffung bei Ausländern (hier: Demokratische Republik Kongo) handelt es sich um solche Aufwendungen, die vom Regelbedarf erfasst sind (§ 27a Abs. 2 Satz 1 SGB XII in Verbindung mit § 28 SGB XII).

§ 27a Abs. 4 Satz 1 SGB XII macht deutlich, dass eine Bedarfslage, die vom Regelbedarf erfasst ist, aber beim Leistungsempfänger in atypischem Umfang besteht, durch eine vom Regelsatz abweichende Bemessung des Bedarfs gedeckt wird. Eine atypische Bedarfslage im Sinne des § 73 Satz 1 SGB XII ist in solchen Konstellationen nicht begründet.

Eine erweiternde oder analoge Anwendung des § 73 SGB XII kommt mangels Regelungslücke nicht in Betracht, weil für Bedarfe, die der Sache nach vom Regelbedarf umfasst sind, neben den Fällen der abweichenden Bemessung nach § 27a Abs. 4 SGB XII noch die darlehensweise Gewährung von Leistungen entsprechend § 24 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Betracht kommt.

Die Ableitung eines Rechtsanspruchs aus § 21 Abs. 6 SGB II scheidet bereits deshalb aus, weil trotz einer fortlaufend bestehenden Passpflicht einer sich in Deutschland aufhaltenden, nichtdeutschen Person der Bedarf hinsichtlich der Kosten des Passes lediglich im Zeitpunkt seiner Beschaffung entsteht, und die Pflicht zur Erneuerung nach zehn Jahren diesen Bedarf nicht zu einem „laufenden“ im Sinne des § 21 Abs. 6 Satz 1 SGB II macht.

Sozialgericht Cottbus, Urteil vom 28. August 2019 (S 20 SO 85/16):

Zur Rechtswidrigkeit einer lediglich darlehensweisen Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt gemäß § 41 Abs. 3 SGB XII in Verbindung mit § 42 SGB XII und § 91 SGB XII. Die in § 91 SGB XII normierte Verwertbarkeit von vorhandenem, über dem Freibetrag von EUR 2.600,- entsprechend § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII liegenden Vermögen setzt voraus, dass dieses einzusetzende Vermögen vorübergehend nicht, aber zumindest doch in absehbarer Zeit verwertbar ist.

Wenn der Zeitpunkt, zu dem über diese Vermögenswerte antragstellerseitig frei verfügt werden kann, außerhalb eines angemessenen Zeitraums liegt, in dem noch vom Einsatz bereiter Mittel (für die Lebensführung) ausgegangen werden kann, muss von einer generellen Unmöglichkeit der Verwertung ausgegangen werden, mit der Folge, dass im Ergebnis kein Vermögen, das einzusetzen wäre, mehr vorhanden ist.

Gemäß § 90 Abs. 1 SGB XII einzusetzendes Vermögen liegt nicht vor, wenn die im Rahmen von Versicherungsverträgen angesparten Geldbeträge aufgrund des dort vereinbarten Verwertungsausschlusses erst nach dem 5. März 2044 frei verfügbar sind. Von einer generellen Unmöglichkeit der Verwertung dieser kapitalbildenden Versicherungen ist somit auszugehen.
Eine Beleihung des bereits angesparten und fest angelegten Guthabens ist für den Antragsteller mit unverhältnismäßigen finanziellen Einbußen verbunden, und damit als unwirtschaftlich zu qualifizieren. Bei derartigen Gegebenheiten hat deshalb eine Gewährung von Leistungen entsprechend den §§ 41 ff. SGB XII auf Zuschussebene zu erfolgen.

Sozialgericht Cottbus, Gerichtsbescheid vom 7. Oktober 2019 (S 27 AS 505/17):

Fall einer unzureichenden Ermessensbetätigung des Jobcenters entsprechend § 31b Abs. 1 Satz 4 SGB II. Von einem rechtswidrigen Ermessensnichtgebrauch muss ausgegangen werden, wenn nicht im Ansatz erkennbar ist, dass der SGB II-Träger sich mit den hier maßgeblichen, ermessensleitenden Gesichtspunkten (z. B. die Schwere und Häufigkeit der Pflichtverletzung, eine etwaige Wirkungslosigkeit der Pflichtverletzung für die Zukunft aufgrund des Nachholens der geforderten Mitwirkungshandlung, das bisherige Verhalten des erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die Art, der Umfang und die Intensität des Pflichtenverstoßes sowie die hieraus resultierenden Folgen für den Hilfebedarf bezüglich der Höhe und der Dauer der zu gewährenden Leistungen wie auch die Einsichtsfähigkeit des unter 25jährigen Hilfebedürftigen und die zu erwartenden Auswirkungen einer nicht verkürzten Sanktion auf die Integrationsfähigkeit und –bereitschaft dieses Menschen) im hinreichenden Maße auseinandergesetzt hat. Hat ein Jobcenter kein Ermessen in Sachen der Reduzierung einer Sanktion nach § 31b Abs. 1 Satz 4 SGB II ausgeübt, muss der gesamte Sanktionsbescheid deshalb als rechtswidrig aufgefasst werden und ist aufzuheben.

Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 5. November 2019 (1 BvL 7/16):

1) Die Regelungen in § 31a Abs. 1 Sätze 1, 2 und 3 SGB II („Rechtsfolgen bei Pflichtverletzungen“) in Verbindung mit § 31b SGB II („Beginn und Dauer der Minderung“) sind in den Fällen des § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB II („Pflichtverletzungen“) insoweit mit dem GG vereinbar, als der Gesetzgeber in § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB II erwerbsfähigen Leistungsberechtigten verhältnismäßige Pflichten auferlegt, um im Sinne von § 10 SGB II zumutbar an der Überwindung der eigenen Bedürftigkeit mitzuwirken. Auch die Entscheidung des Gesetzgebers, die in § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB II normierten Pflichten nach § 31a SGB II und § 31b SGB II, wenn nach § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II kein wichtiger Grund für ihre Nichterfüllung vorliegt, mit der Sanktion durchzusetzen, dass Leistungen in Höhe des für die Person maßgebenden existenzsichernden Regelbedarfs im Sinne des § 20 SGB II vorübergehend gemindert werden, hält sich grundsätzlich in seinem Gestaltungsspielraum. Die nähere gesetzliche Ausgestaltung der Sanktionen wird den hier geltenden, strengen Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit jedoch nach derzeitigem Erkenntnisstand nicht gerecht.

2) Die in § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II normierte Höhe einer Leistungsminderung von 30 v. H. des maßgebenden Regelbedarfs im Fall der Verletzung einer Pflicht nach § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB II ist nach derzeitiger Erkenntnislage für sich genommen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

3) § 31a Abs. 1 Sätze 2 und 3 SGB II sind nach derzeitigem Erkenntnisstand verfassungswidrig, soweit die Minderung wegen einer ersten wiederholten und einer weiteren wiederholten Pflichtverletzung innerhalb eines Jahres die Höhe von 30 v. H. des maßgebenden Regelbedarfs übersteigt. Diese Regelung ist insoweit für mit dem GG unvereinbar zu erklären.

4) § 31a Abs. 1 Sätze 1, 2 und 3 SGB II sind verfassungswidrig und mit dem GG unvereinbar, soweit danach der Regelbedarf bei einer Pflichtverletzung auch im Fall außergewöhnlicher Härten zwingend zu mindern ist, oder das Arbeitslosengeld II auch dann vollständig entfallen muss.

5) § 31b Abs. 1 Satz 3 SGB II ist verfassungswidrig und mit dem GG unvereinbar, soweit er für alle hier überprüften Leistungsminderungen eine starre Dauer von drei Monaten vorgibt.

6) Entscheidet sich der Gesetzgeber für das Durchsetzungsinstrument der Leistungsminderung, setzt er im Bereich der Gewährleistung der menschenwürdigen Existenz selbst an, dann sind die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit dieses Mittels besonders streng. Bei der Ausgestaltung der Sanktionen sind weitere Grundrechte zu beachten, wenn ihr Schutzbereich berührt ist. Das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG erteilt dem Gesetzgeber den Auftrag, ein menschenwürdiges Existenzminimum (Art. 1 Abs. 1 GG) tatsächlich zu sichern. Sowohl die physische als auch die soziokulturelle Existenz eines Menschen werden durch Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG einheitlich geschützt.

7) Die in § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB II normierten Mitwirkungspflichten konkretisieren den gesetzlich festgeschriebenen Grundsatz des Forderns aus § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB II, wonach erwerbsfähige Leistungsberechtigte (§ 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II) sämtliche Möglichkeiten auszuschöpfen haben, um ihre Hilfebedürftigkeit zu beenden oder zu verringern. Dies dient gerade dem legitimen Ziel einer Schonung der Mittel der Allgemeinheit. Hiergegen bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken.

8) Die in § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II normierte Höhe einer Leistungsminderung von 30 v. H. des Regelbedarfs ist aktuell auf der Grundlage plausibler Annahmen hinreichend tragfähig begründbar, sofern auch in einem Fall außergewöhnlicher Härte von dieser Sanktion abgesehen werden kann, und die Minderung nicht unabhängig von der Mitwirkung der betroffenen Leistungsbezieher starr andauert.

9) Ob und in welchem Maße die in § 31a SGB II aufgelisteten Leistungsminderungen überhaupt bewirken, dass die betroffenen Leistungsbezieher ihren Pflichten aus § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB II nachkommen, ist auch nicht durch differenzierte Daten belegt. Dargelegt sind hingegen negative Effekte von Leistungsminderungen. Insbesondere bei Menschen mit mehrfachen Vermittlungshemmnissen und erheblichen psychischen Problemen, die zwar zu einer Mitwirkung grundsätzlich in der Lage sind, aber gemäß § 31a Abs. 1 SGB II mit Leistungsminderungen belastet werden müssen, kann im Einzelfall erkennbar sein, dass die verfügten Minderungen die gewünschten Durchsetzungs- und Integrationseffekte nicht, nicht zu diesem Zeitpunkt oder nicht mehr erreichen. Die bewusst starre Regelung zum Minderungszeitraum in § 31b Abs. 1 Satz 3 SGB II verhindert, dass nur konkret geeignete Sanktionen verhängt werden. Diese Norm zwingt die SGB II-Träger dazu, Leistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz stets für den Zeitraum von drei Monaten zu entziehen. Dies gilt völlig unabhängig davon, ob die Betroffenen ihre Pflicht nachträglich doch noch erfüllen oder sich dazu ernsthaft und nachhaltig bereit erklären, so dass davon auszugehen ist, dass die Erklärung, künftig ordnungsgemäß mitwirken zu wollen, als tatsächlich glaubhaft aufgefasst werden kann. Die starre Fortdauer der Sanktion kann den Anreiz nehmen, eine Mitwirkung nachzuholen, weil die Sanktion weiterläuft.

10) Die Vorgabe in § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II, den Regelbedarf bei einer Pflichtverletzung ohne weitere Prüfung zwingend zu mindern, ist unzumutbar. Diese Regelung stellt derzeit nicht sicher, dass Minderungen ausnahmsweise unterbleiben können, wenn sie außergewöhnliche Härten bewirken, insbesondere weil sie in der Gesamtbetrachtung untragbar erscheinen. Der Gesetzgeber hat hier erkennbaren Ausnahmekonstellationen umfassend Rechnung zu tragen. Die Legislative kann die Zumutbarkeit der Sanktion im Einzelfall, aber auch durch eine Härtefallregelung sicherstellen, die es der Sozialbehörde ermöglicht, von einer im Einzelfall unzumutbaren Sanktion abzusehen.

11) Es ist unzumutbar, dass die in § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II vorgegebene Sanktion in Verbindung mit § 31b Abs. 1 Satz 3 SGB II unabhängig von der Mitwirkung, auf die sie zielt, immer erst starr nach drei Monaten endet. Dieser Minderungszeitraum ist nur dann nicht zu beanstanden, wenn die Mitwirkungspflicht anhaltend verletzt wird. Diese Leistungsminderung ist nur dann zumutbar, wenn sie grundsätzlich endet, sobald die geforderte Mitwirkung erfolgt.

12) Ist die Mitwirkung objektiv nicht mehr möglich, wird aber die Bereitschaft zur Mitwirkung antragstellerseitig ernsthaft und nachhaltig erklärt, muss die Leistung in zumutbarer Zeit wieder gewährt werden. Die starre Frist von drei Monaten ist dafür deutlich zu lang.

13) Es ist nicht erkennbar, dass gerade die nach § 31b Abs. 1 Satz 3 SGB II starr mit drei Monaten vorgegebene Sanktionsdauer dazu beitragen könnte, die betroffenen Leistungsbezieher zur Erbringung ihrer Eingliederungsbemühungen anzuhalten. Die in § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II vorgegebene Sanktion ist verfassungsrechtlich nur zumutbar, wenn ihre Dauer auf die Mitwirkung der Betroffenen und damit auf deren eigenverantwortliches Handeln bezogen ist. Es bedarf die gesetzliche Möglichkeit, Sanktionen zumindest abzumildern, wenn deren Ziel erreicht ist.

14) Die in § 31a Abs. 1 Satz 2 SGB II im Fall der ersten wiederholten Verletzung einer Mitwirkungspflicht nach § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB II vorgegebene Minderung der Leistungen des maßgebenden Regelbedarfs in einer Höhe von 60 v. H. dieses Richtsatzes ist mit dem GG vor allem mangels tragfähiger Erkenntnisse zur Eignung und Erforderlichkeit einer Sanktion in dieser gravierenden Höhe nicht vereinbar. Die Regelung des § 31a Abs. 1 Satz 2 SGB II wird den angesichts der außerordentlichen Härte dieser Belastung strengen Maßstäben der Verhältnismäßigkeit nicht gerecht, weil sie unzumutbar ist. Die hier entstehende Belastung der Klientel reicht weit in das grundrechtlich gewährleistete Existenzminimum hinein. Die Entscheidung des Gesetzgebers in § 31a Abs. 1 Satz 2 SGB II für eine Sanktion der Minderung um 60 v. H. des Regelbedarfs kann sich hinsichtlich ihrer Höhe nicht auf tragfähige Erkenntnisse dazu stützen, dass die erwünschten Wirkungen tatsächlich erzielt und negative Effekte verhindert werden.

15) Mit der Sanktion nach § 31a Abs. 1 Satz 2 SGB II sind in viele Fällen auch negative Wirkungen verbunden wie Wohnungslosigkeit, die Gefahr der Dequalifizierung, eine verstärkte Verschuldung, eingeschränkte Ernährung, unzureichende Gesundheitsversorgung, sozialer Rückzug und seelische Probleme.

16) Die Regelung zu möglichen ergänzenden Leistungen in § 31a Abs. 3 Satz 1 SGB II beseitigt die Zweifel an der Eignung einer Leistungsminderung in Höhe von 60 v. H. des maßgebenden Regelbedarfs nicht. Diese Ergänzungsleistungen stehen grundsätzlich (Ausnahme: § 31a Abs. 3 Satz 2 SGB II) im Ermessen des Jobcenters und sind der Höhe nach nicht quantifiziert.

17) Auch hier fehlt eine Regelung, die es ermöglicht, in außergewöhnlichen Härtefällen von einer weiteren Sanktion abzusehen.

18) Der vollständige Wegfall des Arbeitslosengeldes II nach § 31a Abs. 1 Satz 3 SGB II ist auf der Grundlage der derzeitigen Erkenntnisse mit den verfassungsrechtlichen Maßstäben nicht vereinbar, die den Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers bei der Ausgestaltung der Durchsetzungsmittel von Mitwirkungspflichten zur Überwindung der eigenen Hilfebedürftigkeit begrenzen.

19) Nur begrenzten Schutz vor einem Wohnungsverlust schafft hier § 22 Abs. 8 SGB II, denn ein Darlehen gleicht die Härte nur akut aus und verschiebt die Belastung auf einen späteren Zeitpunkt. In dieser Situation entstehen zudem beim Krankenversicherungsträger Beitragsrückstände, die zu hohen Schulden führen, gerade weil § 26 SGB II („Zuschüsse zu Beiträgen zur Krankenversicherung und Pflegeversicherung“) hier keine Anwendung findet. Durchgreifende Bedenken gegen die Eignung einer Sanktion in entsprechender Höhe ergeben sich somit insbesondere daraus, dass der Verlust der Wohnung droht und die Gefahr besteht, langfristig in eine Schuldenfalle zu geraten. Dies entzieht die Grundlage dafür, wieder in Erwerbsarbeit zurückzukehren und die Existenz selbst zu sichern. In dieser Situation brechen hilfebedürftige Personen häufig den Kontakt zum Jobcenter ganz ab und decken ihre Bedarfe durch illegale Erwerbsarbeit und Kriminalität, so dass sich diese Totalsanktion oft als kontraproduktiv erweist.

20) Der grundrechtlich geschützte Bereich der menschenwürdigen Existenz (Art. 1 Abs. 1 GG) ist hier berührt, weil in keiner Weise belegt ist, dass ein Wegfall existenzsichernder Leistungen notwendig wäre, um das hiermit angestrebte Ziel der beruflichen Eingliederung zu erreichen, und dass eine Minderung der Regelbedarfsleistungen in geringerer Höhe, eine Verlängerung des Minderungszeitraums oder auch eine teilweise Umstellung von Geld- auf Sachleistungen nicht genauso wirksam oder sogar wirksamer wäre, weil die negativen Wirkungen der Totalsanktion unterblieben.

21) Dies gilt gerade für die derzeitige Maßgabe in § 31b Abs. 1 Satz 3 SGB II, wonach sogar der völlig Wegfall von Leistungen nach § 31a Abs. 1 Satz 3 SGB II starr drei Monate andauern soll, auch wenn die behördlicherseits geforderte Mitwirkung schließlich erfolgt. Der Gesetzgeber hat auch hier dafür Sorge zu tragen, dass trotz verfügtem Wegfall des Arbeitslosengeldes II die Chance realisierbar bleibt, existenzsichernde Leistungen zu erhalten, wenn zumutbare Mitwirkungspflichten erfüllt werden, oder die ernsthafte und nachhaltige Bereitschaft zur Mitwirkung tatsächlich besteht.

22) Grundlegend anders gelagert ist es aber, wenn und solange Leistungsberechtigte es selbst in der Hand haben, durch Aufnahme einer ihnen angebotenen, zumutbaren Arbeit ihre menschenwürdige Existenz tatsächlich und unmittelbar durch die Erzielung eines Arbeitseinkommens selbst zu sichern. Bei einer unbegründeten Ablehnung kann ein vollständiger Leistungsentzug gerechtfertigt sein.

Sozialgericht Landshut, Beschluss vom 24. Oktober 2019 (S 11 AS 64/19.ER):

Zur Verfassungswidrigkeit des § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG 2019.
Die Absenkung der Regelbedarfe auf 90 v. H. im Vergleich zu alleinstehenden Personen setzt das Zusammenleben, Partnerschaft und ein Wirtschaften aus einem Topf voraus.
Es erscheint ausgeschlossen, dass nicht miteinander verwandte Personen in einer Gemeinschaftsunterkunft im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG in Verbindung mit § 53 Abs. 1 AsylG regelmäßig und ohne Berücksichtigung des Einzelfalls diese drei Kriterien erfüllen.

Hier muss berücksichtigt werden, dass Bewohner einer solchen Unterkunft individuelle Bedarfe haben können, die diese eigenverantwortlich mit den erhaltenen Geldmitteln decken wollen und dürfen. Dies kann für Bedarfe für Nahrungsmittel und auch für Kommunikation gelten.
Unklar ist im Einzelfall auch, welche Leistungen die anderen Mitbewohner der Gemeinschaftsunterkunft tatsächlich beziehen, z. B. abgesenkte Grundleistungen nach § 3 AsylbLG, oder Anspruchseinschränkungen gemäß § 1a AsylbLG hinzunehmen haben.

Sozialgericht Kiel, Urteil vom 25. Oktober 2019 (S 38 AS 348/18):

Die Härtefallregelung des § 21 Abs. 6 SGB II lässt sich auf die Anschaffung technischer Geräte, die im Unterricht bzw. für die Teilnahme am Unterricht und die Sicherung der pädagogischen Zwecke unabdingbar benötigt werden, wie z. B. ein Notebook übertragen.
Ein regelmäßiger Benutzungsbedarf ist hier nicht zu verneinen.
Die Tatsache, dass ein derartiges Gerät während der Schulzeit nur ein oder zweimal angeschafft zu werden hat, führt hier zu keiner anderen Beurteilung, da ein Bedarf und ein Anspruch nach § 21 Abs. 6 SGB II nicht zwingend in jedem Bewilligungsabschnitt bestehen muss.

BSG, Urteil vom 11. Juli 2019 (B 14 AS 44/18.R):

Die Bildung eines monatlichen Durchschnittseinkommens bei der abschließenden Entscheidung über den Leistungsanspruch erfolgt unabhängig vom Grund der Vorläufigkeit, erfasst alle Einkommensarten und Monate des Bewilligungszeitraums. Mit der zwingenden Vorgabe der Bildung eines monatlichen Durchschnittseinkommens bezieht sich § 41a Abs. 4 SGB II auf sämtliche Arten von Einkommen im Bewilligungszeitraum, berücksichtigt alle Monate dieser Phase und setzt nicht voraus, dass der (schwankende) Bezug von Einkommen der Grund für die Vorläufigkeit war.
Der Sinn und Zweck des § 41a Abs. 4 SGB II stellt eine Verwaltungsvereinfachung bei der abschließenden Entscheidung über den monatlichen Leistungsanspruch durch die grundsätzlich verpflichtende Vorgabe der Bildung eines monatlichen Durchschnittseinkommens dar.

Es handelt sich hier um eine spezialgesetzliche Ausnahme von den die Anrechnung von Einkommen regelnden §§ 11 ff. SGB II. § 41a Abs. 4 SGB II löst die Verbindung mit einer bestimmten Einkommensart und erstreckt die Bildung eines Durchschnittseinkommens auf alle von dieser Vorschrift erfassten Fälle der abschließenden Entscheidung über den monatlichen Leistungsanspruch nach einer vorläufigen Entscheidung.

Die vorläufige Entscheidung begründet grundsätzlich keinen Vertrauensschutz. Mit der abschließenden Entscheidung über die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II werden diese Hilfen insgesamt neu geregelt. Lediglich vorläufig bewilligte Leistungen bilden ein aliud gegenüber abschließend gewährte Hilfen und entfalten keine entsprechende Bindungswirkung.
Vom Jobcenter ist hier zunächst ein monatliches Durchschnittseinkommen durch Addition der Einnahmen je Einkommensart zu bilden, anschließend hat hier eine monatliche Bereinigung um die Absetzbeträge nach § 11b SGB II zu erfolgen. Für diese Bereinigung des monatlichen Durchschnittseinkommens ist zwischen verschiedenen Einkommensarten zu unterscheiden, soweit unterschiedliche Absetzbeträge zur Anwendung gelangen.

Quelle: Kommentierung Dr. Manfred Hammel


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