Kommentierte Gerichtsentscheidungen – Teil 10

10. April 2019

BSG Urteil vom 18. Februar 2018 (Az.: B 8 SO 20/16.R. Der Begriff des „tatsächlichen Aufenthalts“ im Sinne des § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII („Sozialhilfe für Ausländerinnen und Ausländer“) ist grundsätzlich im Sinne einer körperlichen (physischen) Anwesenheit im Bundesgebiet zu verstehen. Das SGB XII sieht auch bei nur vorübergehenden Auslandsaufenthalten (wie z. B. Urlaubsreisen) im Grundsatz keine Bewilligung von Leistungen nach dem SGB XII vor.

Kurzfristige Abwesenheiten während eines Bewilligungszeitraums von regelmäßig nicht mehr als einem Monat lassen die bisherige Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers allerdings unberührt. Es ist deshalb sachgerecht, dass ein Sozialhilfeträger eine an diesen Zeitrahmen angelehnte Unterbrechung des tatsächlichen Aufenthalts, während der Hilfe zum Lebensunterhalt weiterhin aufstockend zu gewähren ist, als anspruchsunschädlich zu akzeptieren hat. Für den Aufenthalt im Inland bewilligte existenzsichernde Leistungen dürfen aber nicht auch bei langfristig angesetzten Auslandsaufenthalten gewährt werden. Dies gilt für deutsche wie für ausländische Sozialhilfeempfängerinnen und –empfänger gleichermaßen.

BSG, Urteil vom 5. Juli 2018 (Az.: B 8 SO 32/16.R):

Eine analoge Anwendung des § 98 Abs. 2 Satz 2 SGB XII bei einem lückenlosen Wechsel von einer vollstationär betriebenen Einrichtung in eine ambulant betreute Wohnform und wieder zurück in eine stationäre Einrichtung ist nicht vertretbar. Bei solchen Gegebenheiten liegt kein durchgehender Aufenthalt in stationären Einrichtungen vor. Es fehlt hier an einer räumlichen Verbindung der Wohngemeinschaft mit dem stationär betriebenen Therapiezentrum, gerade wenn die Anmietung der Wohnung durch die hilfebedürftige Person und nicht durch den Einrichtungsträger erfolgte sowie der mit einer schweren Suchtproblematik betroffene Mensch für seine Lebensführung selbst verantwortlich war, er lediglich Fachleistungsstunden und Einzelsitzungen in Anspruch nahm.

Mit dem Ansatz des Schutzes der Einrichtungsorte als Sinn und Zweck des § 98 Abs. 2 SGB XII stünde es zwar in Einklang, auch bei einem Wechsel von einer ambulant betreuten Wohnform in eine stationäre Einrichtung die bisherige, auf § 98 Abs. 5 Satz 1 SGB XII beruhende Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers des Herkunftsortes festzuschreiben. Dies entspricht aber nicht der gegenwärtigen Gesetzeslage. Hier besteht keine planwidrige Regelungslücke. § 98 SGB XII („Örtliche Zuständigkeit“) normiert unterschiedliche Regelungen für die örtliche Zuständigkeit bei stationären Leistungsfällen hier und solchen des ambulant-betreuten Wohnens dort.

§ 98 Abs. 5 SGB XII verweist nicht umfassend auf § 98 Abs. 1 und 2 SGB XII, sondern ist von § 98 Abs. 2 SGB XII erkennbar abweichend formuliert. Der Gesetzgeber verfügte in diesem Sachzusammenhang gerade keine vollständige Gleichstellung der Bestimmungen über das ambulant-betreute Wohnen mit den Regelungen über die örtliche Zuständigkeit für Einrichtungen.

BSG, Urteil vom 28. August 2018 (Az.: B 8 SO 1/17.R):

Zur Bedürftigkeit nach § 19 Abs. 3 SGB XII unter Berücksichtigung des einzusetzenden Vermögens (§ 90 SGB XII) eines schwerbehinderten Antragstellers, der eine fortlaufende Angewiesenheit auf Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen (§§ 53 ff. SGB XII) und der Hilfe zur Pflege (§§ 61 ff. SGB XII) geltend macht. Die Bejahung einer zur Anhebung des Vermögensfreibetrags gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1b) DVO zu § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII (hier: EUR 2.600,-) führenden besonderen Notlage nach § 2 Abs. 1 Satz 1 DVO zu § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII kann in Berücksichtigung von Schwere und Dauer der Behinderung (hier: Grad der Behinderung 100 bei Zuerkennung der Nachteilsausgleiche „aG“, „RF“ und „H“) sowie der sonstigen Lebensumstände des Antragstellers (hier: vollschichtige Ausübung einer Berufstätigkeit) vertretbar sein (hier: Anhebung auf den wesentlich höheren Vermögensfreibetrag gemäß § 12 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 und 4 SGB II).

BSG, Urteil vom 28. August 2018 (Az.: B 8 SO 9/17.R):

Zur Übernahme der Kosten notwendiger Pkw-Reparaturarbeiten am Fahrzeug einer mehrfachbehinderten, bedürftigen Person als Leistungen der Eingliederungshilfe gemäß den §§ 53 ff. SGB XII. Die in § 10 Abs. 6 der Eingliederungehilfe-Verordnung (EinglHVO) geregelten Leistungen zur Instandhaltung oder zur Übernahme der Betriebskosten eines behinderungsbedingt notwendigen Kfz haben weder die in § 8 EinglHVO normierte Beschaffung eines Kfz zur Voraussetzung, d. h. ob der behinderte Mensch auch der Eigentümer des Fachzeugs ist, noch besteht hier das Erfordernis, dass die jeweilige behinderte Person diesen Pkw selbst bedienen kann.

Auch hier hat das aus § 16 SGB XII hervorgehende Gebot der Bewilligung familiengerechter Leistungen volle Gültigkeit. Eine entsprechend § 18 SGB XII maßgebende Kenntnis des Sozialhilfeträgers als Voraussetzung für eine Bewilligung von Leistungen setzt lediglich die positive Kenntnis dieser Behörde von einem spezifischen Bedarfsfall, nicht aber vom konkreten finanziellen Bedarf voraus. Eine derartige Kenntnis liegt vor, wenn der zuständige Sozialhilfeträger dem mehrfachbehinderten Antragsteller den behindertengerechten Umbau seines Kfz als notwendige Leistung nach den §§ 53 ff. SGB XII finanzierte, und diesem Sozialamt deshalb bekannt war, dass hier mit dem Entstehen von Reparaturkosten während des bestimmungsgemäßen Betriebs dieses Pkw als besondere Instandhaltungskosten gemäß § 10 Abs. 6 EinglHVO prinzipiell jederzeit gerechnet zu werden hat.

Es handelt sich hier um keine vollkommen neue, einmalige Bedarfsdefinition, die eine qualifizierte (vorherige) Kenntnis des Sozialhilfeträgers voraussetzt. Die Ablehnung der Übernahme von Werkstattrechnungen durch das Sozialamt wäre unvertretbar, wenn ohne die Gewährung von Leistungen nach § 10 Abs. 6 EinglHVO der weitere Einsatz des auf Kosten der Sozialhilfe behindertengerecht umgebauten Kfz gefährdet wäre.

BSG, Urteil vom 25. Oktober 2018 (Az.: B 7 AY 1/18.R):

Keine Berücksichtigung eines Mehrbedarfs wegen Alleinerziehung als pauschalierte Leistung nach dem AsylbLG analog § 30 Abs. 3 Nr. 1 SGB XII bei einer nach § 3 AsylbLG leistungsberechtigten Mutter. Bei entsprechend § 1 Abs. 1 in Verbindung mit § 3 AsylbLG anspruchsberechtigten Personen scheidet die Gewährung einer Leistung wegen eines Mehrbedarfs wegen Alleinerziehung auf der Grundlage einer analogen Anwendung von § 30 Abs. 3 Nr. 1 SGB XII mangels einer Regelungslücke von vornherein aus. § 9 Abs. 1 AsylbLG stellt klar, dass gemäß dem AsylbLG anspruchsberechtigte Personen keine Leistungen nach dem SGB XII erhalten. Bei Empfängerinnen und Empfängern von Grundleistungen (§ 3 AsylbLG) werden keine Analogieleistungen gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG gewährt. Die Bewilligung eines Mehrbedarfszuschlags nach § 30 Abs. 3 Nr. 1 SGB XII stellt auch keine entsprechend § 6 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG für die Sicherung des Lebensunterhalts unerlässliche Leistung dar.

Dies gilt gerade dann, wenn die antragstellende Mutter hier keine besonderen Bedarfe geltend machen kann. Dem Gesetzgeber steht es frei, Bedarfe abweichend für nach dem AsylbLG anspruchsberechtigte Personen nur dann zu anzuerkennen, soweit dies im Einzelfall tatsächlich nachgewiesen werden kann. Wenn § 6 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG die Bewilligung von Leistungen lediglich „im Einzelfall“ vorsieht, kann durchaus die Berücksichtigung von Lebensumständen, die bei einer Vielzahl von leistungsberechtigten Personen vorliegen (wie z. B. eine Pflegebedürftigkeit), erfolgen.

BSG, Urteil vom 28. November 2018 (Az.: B 14 AS 31/17.R):

Vom Jobcenter gemäß § 22 Abs. 6 SGB II gewährte Mietkautionsdarlehen sind nicht von der Aufrechnung mit dem Regelbedarf entsprechend § 42a Abs. 2 SGB II ausgenommen.
Der Wortlaut des § 42a Abs. 2 Satz 1 SGB II erfasst sämtliche nach dem SGB II erbrachte Darlehen. § 42a Abs. 3 Satz 1 SGB II regelt die sofortige Fälligkeit der Rückzahlungsansprüche aus Darlehen ebenfalls nach § 22 Abs. 6 SGB II noch während des Bezugs von Leistungen gemäß den §§ 19 ff. SGB II.

Es lässt sich dem Regelungskonzept des SGB II weder entnehmen, dass Aufrechnungen nach § 42a Abs. 2 Satz 1 SGB II lediglich Darlehen erfassen dürfen, die für vom Regelbedarf umfasste Bedarfe geleistet werden, noch dass Aufrechnungen bei Darlehen für andere als vom Regelbedarf umfasste Bedarfe nicht auch Regelbedarfsleistungen erfassen dürfen.
Die Tilgung eines Mietkautionsdarlehens durch Aufrechnung gleicht keine Mehrleistung aus. Die Rückzahlung dieser Kaution in voller Höhe durch den Wohnungsgeber hängt von der ordnungsgemäßen Abwicklung des Mietverhältnisses ab. Hierauf haben die Jobcenter in aller Regel keinen Einfluss.

Bei vollständiger Tilgung des Mietkautionsdarlehens durch Aufrechnung kann der Mieter gegenüber dem Vermieter bei Beendigung des Mietverhältnisses einen Rückzahlungsanspruch geltend machen. Der gemäß § 42a Abs. 2 Satz 1 SGB II erklärten Aufrechnung zur Tilgung von Mietkautionsdarlehen stehen keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken wegen des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 GG) grundsätzlich entgegen. Dem Gesetzgeber ist die Festsetzung einer Aufrechnungsmöglichkeit im SGB II so lange nicht verwehrt, wie zugleich sichergestellt ist, dass dem Betroffenen die auch in dieser Lebenslage unerlässlichen Mittel zur Bestreitung des notwendigen Lebensunterhalts zeitgerecht zur Verfügung stehen.

Bei einer Aufrechnung entsprechend § 42a Abs. 2 Satz 1 SGB II ist allerdings stets die Unterdeckung existenznotwendiger Bedarfe zu verhindern. Bei mehreren zu tilgenden Darlehen begrenzt § 42a Abs. 2 Satz 1 SGB II die zeitgleich erfolgende Aufrechnung auf 10 v. H. des Regelbedarfs. Ein Aufsummieren von Aufrechnungen für mehrere Darlehen auf über 10 v. H. des maßgebenden Regelbedarfs findet nach Maßgabe des § 42a Abs. 2 Satz 1 und Abs. 6 SGB II nicht statt. Das SGB II enthält Regelungen, auf deren Grundlage sonst nicht gedeckte, aber aus verfassungsrechtlichen Gründen tatsächlich zu deckende, existenznotwendige Bedarfe während der Aufrechnung durch ergänzende Leistungen gedeckt werden können. Für einmalige Bedarfsspitzen vom Regelbedarf umfasster Bedarfe sieht § 24 Abs. 1 SGB II zur Verhinderung von Deckungslücken eine darlehensweise gewährte Leistung vor.
Nach § 44 SGB II kann der Rückzahlungsanspruch des Jobcenters einem Leistungsberechtigten erlassen werden, wenn die Einziehung des betr. Betrags nach Lage des Falles unbillig wäre. Für Härtefallmehrbedarfe sieht § 21 Abs. 6 SGB II einen zusätzlichen Leistungsanspruch zum Regelbedarf vor, der als Zuschuss geleistet wird. Erwägen lassen sich hier zudem in besonderen Härtefällen ergänzende Sachleistungen.

BSG, Urteil vom 28. November 2018 (Az.: B 4 AS 46/17.R):

Zur Sozialgeldberechtigung einer schwerbehinderten (GdB: 100 nebst Zuerkennung der Merkzeichen „B“, „G“, „H“ und „RF“), nicht erwerbsfähigen Gattin eines Empfängers von Alg II (§ 19 Abs. 1 Satz 2 und 3 SGB II). Eine Bezieherin einer Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer entsprechend § 43 SGB VI ist als nicht erwerbsfähig im Sinne des § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II aufzufassen. Eine Abstimmung mit dem Sozialhilfeträger über die Frage der Erwerbsfähigkeit gemäß § 44a SGB II in Verbindung mit den §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 8 SGB II hat das Jobcenter hier nicht durchzuführen. Bei einer Erwerbsminderungsrente handelt es sich um keine Sozialversicherungsleistung, die einer Rente wegen Alters ähnlich ist und deswegen einen Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II zur Folge hat.

Die mit einer Altersrente vergleichbare Leistung hat an das Erreichen einer besonderen Altersgrenze anzuknüpfen. Um derartige Altersbezüge handelt es sich bei einer Erwerbsminderungsrente nicht. Das SGB II bestimmt kein Ausschließlichkeitsverhältnis im Hinblick auf das Verhältnis zwischen dem Sozialgeld für Angehörige in einer Bedarfsgemeinschaft gemäß § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II einerseits und Leistungen nach den §§ 41 ff. SGB XII andererseits. Eine dem Grunde nach bestehende Leistungsberechtigung entsprechend den §§ 41 ff. SGB XII schließt einen Anspruch auf die Gewährung von Sozialgeld gemäß § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II nicht aus.

Die aus § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II und § 5 Abs. 2 Satz 2 SGB II hervorgehenden Bestimmungen stellen einen Ausdruck der gesetzgeberischen Entscheidung, das Zusammentreffen der beiden Existenzsicherungssysteme SGB II (Grundsicherung für Arbeitsuchende) und SGB XII (Sozialhilfe) im Hinblick auf eine spezielle Personengruppe differenziert zu regeln.
Einerseits bestimmt das Gesetz einen Leistungs- bzw. Anspruchsvorrang des SGB XII und betont auf diese Weise die besondere Stellung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (§§ 41 ff. SGB XII). Andererseits bleiben auch die Jobcenter für diese Personengruppe zuständig, indem das SGB II den dauerhaft voll erwerbsgeminderten Mitgliedern einer Bedarfsgemeinschaft nachrangige Leistungsansprüche zuweist. § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II und § 5 Abs. 2 Satz 2 SGB II beziehen dies auf das Sozialgeld als Geldleistung nach dem SGB II.

Quelle: Dr. Manfred Hammel

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