Eine unternehmensinterne Regel, die das sichtbare Tragen jedes politischen, philosophischen oder religiösen Zeichens verbietet, stellt keine unmittelbare Diskriminierung dar.
Ohne eine solche Regel kann der Wille eines Arbeitgebers, den Wünschen eines Kunden zu entsprechen, wonach seine Leistungen nicht mehr von einer Arbeitnehmerin erbracht werden sollen, die ein islamisches Kopftuch trägt, jedoch nicht als berufliche Anforderung angesehen werden, die das Vorliegen einer Diskriminierung auszuschließen vermag.
Am 12. Februar 2003 trat eine Frau, die muslimischen Glaubens ist, als Rezeptionistin in den Dienst eines Unternehmens. Dieses private Unternehmen erbringt für Kunden aus dem öffentlichen und privaten Sektor u.a. Rezeptions-und Empfangsdienste. Als die Frau eingestellt wurde, verbot eine bei der Firma geltende ungeschriebene Regel es den Arbeitnehmern, am Arbeitsplatz sichtbare Zeichen ihrer politischen, philosophischen oder religiösen Überzeugungen zu tragen. Im April 2006 kündigte die Frau ihrem Arbeitgeber an, dass sie beabsichtige, während der Arbeitszeiten das islamische Kopftuch zu tragen. Die Geschäftsleitung antwortete ihr, dass das Tragen eines Kopftuchs nicht geduldet werde, da das sichtbare Tragen politischer, philosophischer oder religiöser Zeichen bei ihren Kundenkontakten angestrebten Neutralität widerspreche.
Nach einer krankheitsbedingten Abwesenheit teilte die Frau ihrem Arbeitgeber am 12. Mai 2006 mit, dass sie am 15. Mai ihre Arbeit wieder aufnehmen und künftig das islamische Kopftuchtragen werde. Der Betriebsrat billigte am 29. Mai 2006 eine Anpassung der Arbeitsordnung des Unternehmens, die am 13. Juni 2006 in Kraft trat. Darin heißt es: „Es ist den Arbeitnehmern verboten, am Arbeitsplatz sichtbare Zeichen ihrer politischen, philosophischen oder religiösen Überzeugungen zu tragen und/oder jeglichen Ritus, der sich daraus ergibt, zum Ausdruck zu bringen.“
Am 12. Juni 2006 wurde die Frau aufgrund ihrer festen Absicht, an ihrem Arbeitsplatz das islamische Kopftuch zu tragen, entlassen. Sie hat diese Entlassung vor den belgischen Gerichten angefochten. Der mit der Sache befasste Hof van Cassatie (Kassationshof, Belgien) fragt nach der Auslegung der Unionsrichtlinie über die Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf1. Er möchte wissen, ob das Verbot, ein islamisches Kopftuch zu tragen, das sich aus einer allgemeinen internen Regel eines privaten Unternehmens ergibt, eine unmittelbare Diskriminierung darstellt. In seinem heutigen Urteil weist der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz im Sinne der Richtlinie bedeutet, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung u.a. wegen der Religion geben darf.
Der Begriff der Religion wird zwar in der Richtlinie nicht definiert, doch hat der Unionsgesetzgeber auf die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten(EMRK) und auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten Bezug genommen, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union bekräftigt worden sind. Daher ist der Begriff der Religion dahin zu verstehen, dass er sowohl den Umstand, religiöse Überzeugungen zu haben, als auch die Freiheit der Personen umfasst, dies ein der Öffentlichkeit zu bekunden. Der Gerichtshof stellt fest, dass sich die interne Regel auf das Tragen sichtbarer Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen bezieht und damit unterschiedslos für jede Bekundung solcher Überzeugungen gilt. Nach dieser Regel werden alle Arbeitnehmer des Unternehmens gleich behandelt, indem ihnen allgemein und undifferenziert u.a. vorgeschrieben wird, sich neutral zu kleiden.
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Quelle: Europäische Union – Urteil Rechtssache C-157/15, G4S Secure Solutions